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in lobsters paradise :: Ernest Mandel

Autor: Christoph Jünke

Ernest Mandel, der am 20. Juli in seiner belgischen Heimat Brüssel einem Herzinfarkt erlegen ist, war einer der originellsten und produktivsten Denker der linken sozialistischen Bewegung. Seine über zwei Dutzend Bücher und unzähligen Artikel zur politischen Ökonomie des Kapitalismus, zur politischen Theorie und zu Fragen der Weltgeschichte sind in über 30 Sprachen übersetzt und erreichten ungewöhnliche Auflagenhöhen. Seine bemerkenswerte Fähigkeit, die teilweise recht schwierigen Feinheiten der marxistischen Kapitalismuskritik in eine allgemeinverständliche Sprache zu übersetzen (vgl. v.a. seine Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie und seine Einführung in den Marxismus), führte sogar dazu, daß Auszüge aus seinen Werken Eingang in bundesdeutsche Schulbücher fanden. 

Geboren 1923 in Frankfurt, wuchs Mandel in einem linkssozialistischen Elternhaus in Belgien auf und stieß schon als jugendlicher Widerstandskämpfer gegen den Faschismus zur Bewegung der von Leo Trotzki gegründeten IV. Internationale, jener politischen Bewegung, die seit den 30er Jahren versucht, das Erbe der revolutionären Arbeiterbewegung mit einer Kritik des Stalinismus und der internationalen Sozialdemokratie zu verbinden, und sich weltweit für eine dritte Alternative zum Kapitalismus einsetzt. 

Nach Festnahme, Flucht und erneuter Festnahme durch die Nazis landete der junge jüdische Kommunist in einem deutschen Arbeitslager und wurde erst von den Alliierten daraus befreit. In den 50er und 60er Jahren engagierte er sich an führender Stelle in der belgischen Arbeiterbewegung und veröffentlicht 1962 sein zweibändiges Werk Marxistische Wirtschaftstheorie, das ihn schlagartig bekannt machte. Die übliche Marxsche Textexegese hinter sich lassend, arbeitet sich Mandel in diesem Buch durch das umfangreiche Schrifttum der zeitgenössischen Sozialwissenschaften, überprüft vor diesem Hintergrund die zentralen Erkenntnisse der Marxschen Theorie und bietet auf diesem Wege eine umfassende, verständliche Einführung in die marxistische Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie, die noch heute mit großem Gewinn zu lesen ist. Mandel beschränkte sich jedoch nie auf Wissenschaft allein. Er hielt Vorträge in aller Welt, arbeitete an diversen Zeitungen und in der Gewerkschaft mit, baute die IV. Internationale auf, organisierte Streiks u.v.a.m. Sein politisches Eingreifen in den Pariser Mai 1968 brachte ihm Einreiseverbot nach Frankreich, sein erstes im Westen. Die USA, Österreich, die Schweiz und Australien folgten diesem Beispiel. Der Ostblock blieb dem radikalen Kritiker des Stalinismus bis auf einige wenige Länder sowieso verschlossen. Als Mandel 1972 einen Lehrauftrag an der Westberliner Universität bekommen soll (er hatte sich dort mit seinem ökonomischen Hauptwerk: Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung dissertiert), verhängt der “liberale” Innenminister Hans-Dietrich Genscher ein Einreiseverbot und stempelt ihn sieben Jahre lang zur persona non grata, zur unerwünschten Person. 

Mandels offener Marxismus, der die Fallstricke des an Moskau oder Peking orientierten Dogmatismus ebenso vermied wie die theorielose Handwerkelei reformistischer Sozialdemokraten, beeinflußte zehntausende junger politisierter Menschen und schulte wie kaum ein anderer zeitgenössischer Marxist tausende von politischen Aktivisten. Für Mandel konnte es kein Auseinanderfallen von Theorie und Praxis geben. Die marxistische Theorie blieb ihm - altmodisch und doch so aktuell - Anleitung zum gesellschaftsverändernden Handeln. Deswegen verband er beides, den umfassend gebildeten Intellektuellen (er sprach alle großen europäischen Sprachen fließend) und den leidenschaftlichen politischen Aktivisten, den orthodoxen, aber undogmatischen Marxisten, sowie den begnadeten, weil fesselnden Redner und schneidenden Polemiker. 

Ende der siebziger Jahre erreichte Mandel den Höhepunkt seines Schaffens. Seine Bücher Kritik des Eurokommunismus, Revolutionäre Strategien im 20. Jhdt. und Trotzki. Eine Einführung in sein Denken gehören zu den wichtigsten Dokumenten politischer Theoriebildung der letzten drei Jahrzehnte. Zur selben Zeit entstand seine ökonomische Theorie der Langen Wellen, mit der er seine Analyse des Spätkapitalismus vertieft und die Umbrüche in der Weltwirtschaft in den Zusammenhang der letzten hundertfünfzig Jahre Weltkapitalismus stellt. In den 80er Jahren verfaßt er schließlich eine vielbeachtete Sozialgeschichte des Kriminalromans, eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs und weitere Studien zur ökonomischen Krise des aktuellen Kapitalismus. Früh analysiert er auch die Perspektiven und Widersprüche der sowjetischen Reformpolitik unter Gorbatschow (Das Gorbatschow-Experiment). In längeren Aufsätzen verteidigt er die Prinzipien der sozialistischen Planwirtschaft und analysiert die Lage und Zukunft der sozialistischen Bewegung. Seine lebenslange kritische Auseinandersetzung mit den stalinistischen Erziehungsdiktaturen gipfelt schließlich in seinem demnächst auch auf deutsch erscheinenden Buch Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie. Hierin geht er den Wurzeln der verheerenden Bürokratisierung der Arbeiterbewegung auf den Grund, sowohl ihrer sozialdemokratischen, als auch ihrer stalinistischen und poststalinistischen Varianten. Ausgehend davon entwirft er Grundzüge einer zeitgenössischen, gleichermaßen antikapitalistisch wie antibürokratischen Kritik der herrschenden Verhältnisse in Ost und West. Um die heutige linke Bewegung ist es bekanntlich nicht gut bestellt. Die Zerstörung des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates und der Zusammenbruch der “realsozialistischen”, spätstalinistischen Staaten haben die Idee des Sozialismus in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise gestürzt. Um aus diesem Tal herauszukommen, wird es entscheidend sein, sowohl die Kritik der kapitalistischen Weltökonomie, als auch die Kritik der bisherigen Strömungen der sozialistischen Bewegung zu erneuern. Zu beiden Bereichen hat Ernest Mandel ausgesprochen wertvolle Beiträge geliefert, die seinen Tod überdauern werden. 

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BASTA ! - 4 / 95 - Seite 25 - Nachruf 
Dieser Artikel erschien in dem Duisburger Studentenmagazin BASTA !

Geschrieben von John Lobster | am