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Wahrheit und Dichtung - einmal um den Block/g

Sep 2017
02

Wege entstehen dadurch, dass man sie geht (Franz Kafka)

Janouch war der Sohn eines Kollegen Kafkas in der Arbeiter-Versicherungs-Anstalt, der seinen Sohn, weil er dichtete, einmal zu Kafka brachte. Kafka nahm den jungen Mann mit großer Liebenswürdigkeit auf; er traf öfter mit ihm zusammen und sprach mit ihm über die verschiedensten literarischen Gegenstände. Nach einem Vierteljahrhundert hat nun Janouch nach den Notizen, die er sich über diese Gespräche machte, ein Erinnerungsbuch geschrieben. Er sandte das Manuskript an Max Brod, der es - nach Inhalt und Form der Gespräche - für authentisch erklärte. Es steht wohl außer Frage, dass die veröffentlichten Gespräche auf wirklich stattgefundenen Unterredungen beruhen, wenn auch ihre Formulierung bei der nachträglichen Stilisierung vermutlich eine etwas entschiedenere Fassung erhielt, als Kafka sie ihr ursprünglich gegeben haben mag. Dennoch ist Janouchs Buch als eine wertvolle biographische Quelle zu betrachten. (Felix Weltsch, Klappentext)

» (…) Gibt es aber ein größeres Geheimnis als die Wahrheit? Dichtung ist immer nur eine Expedition nach der Wahrheit.«
»Was ist aber die Wahrheit?«

Kafka schwieg einen Augenblick, dann lächelte er spitzbübisch.
»Das sieht so aus, als hätten Sie mich gerade bei einer leeren Phrase ertappt. In Wirklichkeit ist dem nicht so. Die Wahrheit ist das, was jeder Mensch zum Leben braucht und doch von niemand bekommen oder erstehen kann. Jeder Mensch muss sie aus dem eigenen Innern immer wieder produzieren, sonst vergeht er. Leben ohne Wahrheit ist unmöglich. Die Wahrheit ist vielleicht das Leben selbst.«

- Gustav Janouch. Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen.

Ein chinesischer Bachus

Dez 2010
05

Artgenossen hin oder her, zum 2. Advent schenkt uns durch Klabund, eigentlich Alfred Henschke, ein Herr ›Morgenstern‹ Li ein kleines Gedicht, um all dem Elend der kommenden Tage zu entgehen. Klabautermann Vagabund - kurz Klabund - verstarb in seinem achtunddreißigsten Jahr mit der Feststellung » Man müsste einmal eine Literaturgeschichte der Schwindsüchtigen schreiben, diese konstitutionelle Krankheit hat die Eigenschaft, die von ihr Befallenen seelisch zu ändern. Sie tragen das Kainsmal der nach innen gewandten Leidenschaft. «


Klabund

Li Tai-pe
Nachdichtungen


Geschrieben im März 1915
Li Bai

Der Hummer

Trinke dreihundert Becher guten Wein,
Und du wirst der Gattin Sorge ledig wie ein Junggeselle sein.
Groß ist die Zahl der Schmerzen und die Zahl der Becher klein:
Es bleibt nichts übrig, als ewig betrunken sein!
Weshalb sich seinen Ruhm wie Bei und Schu Tji erhungern ?
Wir wollen faul auf der Terrasse lungern.
Man spalte einen rotgesottenen Hummer!
Man spalte das Leid, man spalte die Qual und den Kummer!
Wir saugen sie aus bis auf die harten Schalen und häufen
Sie mit den Hummerscheren zu heiligen Hügeln —
Laßt trunken uns die Nacht mit ewigen Flügeln überflügeln!




Nachwort
Li Tai-pe lebte in China von 699 bis 762 nach Christi Geburt. Als ewig trunkener, ewig heiliger Wanderer wandert er durch die chinesische Welt. Kunstsinnige Herrscher beriefen den erlauchten Vagabunden an ihren Hof, und oft genug erniedrigte und erhöhte sich der Kaiser zum Sekretär des Dichters: wenn Li Tai-pe nach einem Zechgelage ihm seine Verse im Morgengrauen in den Pinsel diktierte. Der Kaiser, der den Dichter und Menschen brüderlich liebte, machte ihn zum kaiserlichen Beamten, setzte ihm eine Rente aus und gab ihm als Zeichen seiner höchsten Gnade ein kaiserliches Prunkgewand zum Geschenk — für einen Chinesen damaliger Zeit die höchste Ehrung. Li Tai-pe schleifte das kaiserliche Gewand durch alle Gossen der Provinz und ließ sich an Abenden voll Trunkenheit als Kaiser huldigen. Oder er hielt, in des Kaisers Kleidern, rebellische Ansprachen an die Trinkkumpane und das herbeigelaufene Volk. Er starb im Rausch, indem er bei einer nächtlichen Bootfahrt aus dem Kahne fiel. Die Legende läßt ihn von einem Delphin erretten, der ihn, während in den Lüften engelhafte Geister ihn betreuen, aufs Meer hinaus und in die Weite der Unsterblichkeit entführt.

Sein Volk vergötterte ihn und errichtete ihm einen Tempel; der kunstreichste der chinesischen Lyriker wurde auch der volkstümlichste. Noch heute genießt er in China, dem klassischen Lande des Literatentums, ein Ansehen, wie es nicht einmal Goethe bei den Deutschen genießt. Während eifrige Kommentatoren fortgesetzt am Werke sind, seinen Versen spitzfindige, tiefsinnige und geistreiche Erklärungen unterzulegen, singen junge und alte Burschen seine unsterblichen Lieder auf den Straßen.


Klabund