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Der Friede, welcher höher ist als alle Vernunft - Anfang und Ende

Jul 2022
07
I. The Burial of the Dead

    April is the cruellest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain.
Winter kept us warm, covering
Earth in forgetful snow, feeding
A little life with dried tubers.

...

    I sat upon the shore
Fishing, with the arid plain behind me
Shall I at least set my lands in order?
London Bridge is falling down falling down falling down
Poi s’ascose nel foco che gli affina
Quando fiam uti chelidon—O swallow swallow
Le Prince d’Aquitaine à la tour abolie
These fragments I have shored against my ruins
Why then Ile fit you. Hieronymo’s mad againe.
Datta. Dayadhvam. Damyata.
      Shantih     shantih     shantih

T.S. Eliot, The Waste Land, 1922

 

Mögen unsere Wirrköpfe ihren Frieden finden. Angelnd! Frisiert oder nicht!
b.b.B. 😛

Am Nasenring durch die Manege - von Souveränität und Freiheit

Mai 2022
22

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;

man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.

Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

Karl Kraus, Band 9 (Gedichte), S. 639. Vgl. Die Fackel Nr. 888, Oktober 1933, S. 4.

 

Von der verzweifelten Suche nach Beständigkeit im Momento der Zerbrechlichkeit...
und vom Versuch im Nebel eine “
Sprache zu finden gegen den Druck, der sie nimmt ! ”

Der Mensch möchte gerne betrogen werden, belügt er sich doch fortwährend selbst. Er möchte glauben. Glauben an die Wahrhaftigkeit einer Erzählung, eines Gegenübers, eines Getreuen, einer Existenz, einer allumfassenden Bestimmung des Seins. Angesichts der Masse mit der wir heute Meinungs.bildend konfrontiert werden ist dieses urmenschliche Verhalten umso auffälliger. Man muss zweifeln. Das ist das was man aus dem sich entwickelndem Leben lernen kann und lernen muss. Aber das stete Zweifeln ist anstrengend und da als Mensch von Natur aus ebenso dem Schlichten zugewandt, verstärkt der Zweifel den Glauben. So sitzen wir gefangen in unseren Blasen und vertrauen dort auf das Gute, das Bestätigende, das Wahre und Wohlmeinende. Es ist zum Verrücktwerden! Von der Wiege bis zur Bahre ein dorniger Weg.

„Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos“
 

Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft, 1991; 5. Aufl., Verl.: J.C.B. Mohr. S. 36

Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ (Sokrates). Dieses unfassbare Gestammle aus Deutungen, Erzählungen, Geschichten und Kommentaren; alle ohne Anfang und Ende, in sich schlüssige oder auch nur postulatische Übersetzungen des Gewordenen, eines Geworfenen und Getanen, oder eben nur Herbei.gewünschten, Herbei.geschriebenen, machen mich kirre. Ich habe Erscheinungen, kurze Helligkeiten, die alsbald wie Seifenblasen zu zerplatzen beginnen, nichts als ein beständiges plopp plopp und Kreise einer sich ausbreitende Leere hinterlassend; die mich sprachlos machen!

In meinem Ringen um Worte vergehen die Zeiten. Gestern noch tiefes Gefühl und als Suche des Ausdrucks, heute schon Schall und Leer, nichts anderes als das was ich zu kritisieren suche auf meiner verzweifelten Suche. Dann und wann fällt einem eine Perle aus vergangenen Zeiten vor die Füße, in der ein Recke mit größerer Potenz die Fackel schwingt und mit seinem Lichtschwert der Worte so tüchtig in die Landschaft haut, dass es eine wahre Freude ist. Man wagt zu fragen wie es sein kann, dass solche Texte auch heute noch passen, wo wohl der wortgewaltige Karl Kraus unserer Tage zuschlägt und die Geschichtenerzähler und Dummschätzer, ja das ganze Gewese der Journaille von Heute entlarvt... die kaum je besser geworden zu sein scheint.

Heute leben wir in Meinungsinfektionen, Epidemien der Erregungskultur (Sloterdijk). Alles wird hochgejazzt und Erklärendes - soweit überhaupt vorhanden - verschwindet hinter den Paywalls. Es geht eben nur noch ums Aufmerksamkeitsgeheische. Zahlt der Gutgläubige seinen Obolus bekommt er den Rest zu sehen und wird meist schwer enttäuscht, setzt sich doch das Gestammele und die enervierende Erregungskette fort, wo der hilflose Geist sich dem Zeitgeist konfrontiert sieht.

Nun denn... Soll er statt meiner sprechen. Hoch die Tassen!

(Ob der Länge etwa(s) zwei.geteilt)

Aufnahme von Charlotte Joël (1930)

Dezember 1912

Karl Kraus

Untergang der Welt durch schwarze Magie

Ich habe Erscheinungen vor dem, was ist. Ich mache aus einer Mücke einen Elefanten. Ist das keine Kunst? Zauberer sind die andern, die das Leben in die Mückenplage verwandelt haben. Und der Mücken werden immer mehr. Oft kann ich sie nicht mehr unterscheiden. Tausend habe ich zu Hause und komme nicht dazu, sie zu überschätzen. Bei Nacht sehen sie wie Zeitungspapier aus und jedes einzelne Stück lacht mich an, ob ich nun endlich auch ihm die Verbindung mit dem Weltgeist gönnen wolle, von dem es stammt. Gegen die Plage dieser Ephemeren gibt es keinen Schutz, als sie unsterblich zu machen. Das ist eine Tortur für sie und für mich. Doch wachsen sie nach und ich werde nicht fertig. Finde ich da ein Stück:

Man hat ihn mit Geschenken, Blumen, Reden gefeiert. Die Vertreter der Stadt und des Landes, das Zivil wie hohe Offiziere wetteiferten darin, diesem Jubilar zu zeigen, daß so redliche Tüchtigkeit nicht nur Ehre, sondern auch herzliche Zuneigung einbringt.

Was war das nur? Warum habe ich das aufgehoben? »Man hat ihn ...«: dieser Ton muß einer Feier gelten, die schon etwas Selbstverständliches hat. Was kann es nur sein, wobei Stadt und Land, Zivil und Militär wetteifern? Grillparzer? Der Ausschnitt ist doch nicht so alten Datums, und damals hat man sich noch nicht so ins Zeug gelegt für die Jubilare. »Herzliche Zuneigung«: das würde für Alfred Grünfeld sprechen, aber da gibts keine Vertreter des Landes. »Redliche Tüchtigkeit«: für Schnitzler, aber da rückt wieder das Militär nicht aus. Auch dürfte es sich nicht um einen der Fünfziger handeln, die heuer wie falsches Geld herumlaufen, sondern eher um einen, der seit fünfundzwanzig Jahren — ich weiß es nicht, aber man sollte mir helfen. Man muß doch schließlich schon viel besser als ich wissen, wem ein verlorener Tonfall gehört. Ich habe die Übersicht verloren. Ich kann nicht mehr mit Sicherheit sagen: So haben die Wiener einen ihrer titanischen Kaffeesieder gefeiert. Denn inzwischen ist ein Geschlecht von Epigonen nachgewachsen, und denen wird auch schon gehuldigt. Ich sehe zum Beispiel irgendwo ein Bild: ein Ehepaar. Er ein Charakterkopf. Darunter steht — wie eben immer die Tat, die den Mann berühmt gemacht hat, mit einem Schlagwort, gleich unter dem Bild und vor der eigentlichen Biographie, umrissen wird:

Cafétier Anton Stern, der Besitzer des Wiener Café Prückl, und seine Gattin, die in eigenen Autos die Gäste gegen Erlag einer Krone in ihre Wohnungen fuhren lassen.

Ja, so hat er ausgesehen, das hat er vollbracht; ein Blick, und man übersieht ein Leben und ein Werk. Überall Bild und Wort zur Feier genialer Initiative. Aber das Wort klingt wieder anders. Gibt es da noch Varianten? Fest steht: er hat den Gedanken gehabt, die Gäste gegen Erlag einer Krone — — Endlich der vertraute Hinweis: »Heuer zaubert er ...« Nämlich aus den Souterrainlokalitäten das Schmuckkästchen hervor, weiß schon weiß schon. Wo ich hinschaue, lese ich und sehe ich das jetzt. Das ist eine Welt von Taten und Tönen, die mich vollends bezaubern würde, wenn ich nicht neben mir die Stimme des Advokaten hören müßte, der mir fortwährend zuraunt: Aber das weiß doch so jeder Gebildete, daß das bezahlt ist! Oder: Wissen Sie sich keine ärgere Übel zu beleuchten? Harden hat doch größere Themas ... Nun weiß ich ja nicht, ob die Fähigkeit, solche Stimmen zu hören und gleich mitklingen zu lassen, wenn ich die Gefahr eines Cafétiers überschätze, mir nicht doch endlich als das größte Thema angerechnet werden wird. Fast glaube ich, daß ich nie einer Gesellschaft, die Einwände erhebt, begreiflich machen werde, daß der Einwand die Überschätzung erst berechtigt, ja mit dem Übel selbst übereinstimmt, und daß der Zeuge identisch ist mit dem Täter. Denn diese Gesellschaft läßt sich nur das begreiflich machen, was sich begreiflich machen läßt, aber ihre eigene Unbegreiflichkeit, die ein Motiv künstlerischer Ahnung ist, entzieht sich ihrem Verständnis. Der Advokat soll und darf den für irrsinnig halten, der dabei bleibt, daß der gesamte Balkan viel unwichtiger ist als eine einzige Kaffeesieder-Annonce. Der Advokat ist da des Einwands überhoben, daß man ein Ästhet sei, wenn man die Politik für unwichtig hält. Ist man denn ein Ästhet, wenn man sich statt für gute Luft und schöne Linie für das Heiratsangebot eines Budapester Spezialarztes interessiert? Es ist so furchtbar schwer, sich mit Leuten, die ihre fünf Sinne beisammen haben, zu verständigen. Lassen wirs. Dem letzten Tier, das jetzt den Ehrgeiz hat, in der Kärntnerstraße zwischen sieben und acht links zu gehen, versichere ich, daß ich es, das Tier, für tausendmal wichtiger halte als den Dr. Danew. Das wird ihm, dem Tier, doch genügen. Was ich zu tun habe, ist unwichtig. Es ist bloß der Versuch, Gott zu geben, was Gottes, und dem Tier, was des Tieres ist. Es ist bloß das Gestammel der Sehnsucht, den Geist zu trennen von den Dingen, die gebraucht werden. Und wenn ich darüber nachdenke, will ich Heine belangen. Und schon ist der Advokat da und sagt: Heine ist doch für die Journalisten, die später auf die Welt gekommen sind, nicht verantwortlich und das Lob der Cafétiers ist doch bezahlt! Der Advokat hat, da er nichts anderes hat, Recht. Er hat nicht nur dort recht, wo er recht hat, sondern immer. Er begreift nur die Verantwortung, und im Staat gibts größere Übel als jene. Aber das größte ist das kleine, für das niemand verantwortlich ist und jeder, der es nicht ist. Vor allem der, der früher gelebt hat und also schon tot ist. Ich kann dem lebendigen Advokaten keine andere Antwort auf die viertausend anonymen Briefe geben, die er mir schon geschrieben hat. Der Advokat ist nützlich und soll auch in der Welt einen Platz finden, die die andere wäre. Aber in der würde die Leistung des Advokaten oder des Cafétiers die ihr zukommende Wertung finden und nicht jene, die ihre Termini aus dem Reich des Genius holt. Denn wenn der Apparat des geistigen Lebens dem sozialen Zweck für Geld zur Verfügung steht, ist die Welt zu Ende. Der Advokat meint natürlich: wegen der Korruption meinen Sie? Nein, wegen der Erleichterung der Schamlosigkeit, die geistige Werte vergibt. Es ist gar kein Zweifel, daß die Beethovens verkürzt werden, wenn über die Kaffeesieder gesagt wird, daß sie Schöpfer sind, und sie werden umso gewisser verkürzt, wenn die Administration über den Wortschatz verfügt, den die Redaktion vom weiland Geiste gestohlen hat. Eine Gesellschaft ist dann auf dem Krepierstandpunkt, wenn sie zum Schmuck des Tatsachenlebens Einbrüche in kulturelles Gebiet begeht und duldet. Nirgendwo auf der Welt erlebt sich das Ende so anschaulich wie in Österreich. Hier kann sich die Entwicklung, deren Sendbote Heine war, täglich zweimal im Spiegel sehen. Die grauenvolle Abbindung der Phantasie durch die Ornamentierung geistiger Nachttöpfe hat hier schon zu jener vollständigen Verjauchung geführt, die der europäischen Kultur im Allgemeinen noch vorbehalten bleibt. Die Zeitung ruiniert alle Vorstellungskraft: unmittelbar, da sie, die Tatsache mit der Phantasie servierend, dem Empfänger die eigene Leistung erspart; mittelbar, indem sie ihn unempfänglich für die Kunst macht und diese reizlos für ihn, weil sie deren Oberflächenwerte abgenommen hat. Die Zeitung ist eine unlautere Konkurrenz, die beim Nachbarn Einbruch begeht und gegen die Kundschaft Gewalt anwendet. Wenn der alte journalistische Typus in den Krieg zog, so log er. Aber er begnügte sich damit, unwahre Tatsachen mitzuteilen. Der neue ist dazu unfähig und stiehlt Stimmungen. Natürlich verfaulen sie in seiner Hand sofort zur Phrase, deren Mißgeruch noch gegen den ersten Erzeuger einnimmt. Von Wippchen zu Zifferer sind wir arg heruntergekommen; die Lüge eines türkischen Siegs wäre schöner als die Poesie einer bulgarischen Landschaft. Hier sind wir ganz im Elend. Die Vorstellung ist pfutsch, es kann keinen Dichter mehr geben, weil schon der Reporter einer ist, und der Staat hat nicht mehr genug Phantasie, um die letzte Steuer zu erfinden, die wenigstens etwas wie ein Ausweg wäre und wie der ehrliche Versuch, aus dem geistigen Elend Kapital zu schlagen: die Phrasensteuer. Oder den Zehent an Nuancen. Tausendmal größer noch wäre der wirtschaftliche Gewinn als bei jener Ersparnis am Ornament, auf die es einer der seltenen Antiwiener, Adolf Loos, abgesehen hat, ein Rechtsgeher der Kultur, der das Parsifal-Motiv von den Automobilhupen separieren will und den der Idiotismus deshalb für einen Bejaher der Automobilhupen hält und nicht für den Befreier des Parsifal-Motivs. Was ist aber der faule Zauber um die surrogatbedürftige Leere des Zeitgenossen, der ohne Zierat nicht fahren und nicht essen kann, gegen die furchtbare Anwendung des Geistes auf die Dinge des journalistischen Hausgebrauchs, auf eine Nutzbarkeit oder Unentbehrlichkeit, die sich in der Meldung, daß geschossen wurde, daß einer angekommen ist und daß ein Cafétier sein Lokal vergrößert hat, nicht mehr ausleben kann ohne Stimmung, Plastik oder Bedeutung? Für Reklame muß auch in anderen publizistischen Regionen gezahlt werden und sie bekommt im Ausland sogar den Platz vor der Politik, wenn sie mehr einträgt. Eine Presse, die sich auf den Ehrgeiz beschränkt, eine Bedürfnisanstalt zu sein, wird dem Cafétier, der sein Geschäft empfehlen will, den Platz vor Herrn Iswolsky ausnahmsweise zur Verfügung stellen. Aber sie wird an ihn nicht den Vorrat von Geistigkeit wenden, den sie Künstlern vorenthält, nachdem sie ihn von Künstlern gestohlen hat. Nur eine infame Meinungspresse, wie wir sie haben, nur die Vertretung jenes schamlosen Anspruchs, daß ein meldender Bote Geist und eine Plakatsäule Gemüt habe, ist auch bereit, die Grenze zu verschieben. Die Korruption, die zwischen Textteil und Anonncenteil Schiebungen macht, ist völlig belanglos neben der Schweinerei, die in allen Rubriken dichtet. Es kommt nicht darauf an, wo, sondern wie ein Händler gelobt wird; es ist besser, wenn im Leitartikel eine Ware empfohlen wird, als wenn ein Jobber dort poetischen Unfug treibt, und es ist besser, wenn im Text die Ware beschrieben, als wenn im Anonncenteil der Händler besungen wird. Nicht im letzten Provinznest, wo schließlich der Kaffeesieder auch Bürgermeister sein kann und überhaupt der bedeutendste Mensch in der ganzen Gegend, nicht in Arad, nur in Wien, nur in einem Kulturzentrum, wo ein schlichtes Frühstück, bestehend aus Kaffee, Butter und Eiern, plötzlich auf den Namen »Prückl-Frühstück« hört und zehn Individualitäten auf einmal für eine die Meldung ausbrüllen: »Ein Prückl-Frühstück für den Herrn von Politzer!«, nur in Wien, wo eine Torte eines Tages als Zehetbauer-Creme-Torte erwacht, wo ein Speisenträger Napoleon heißt, aber ein Zahlkellner mit »Herr Zwirschina« angesprochen wird, nur in Wien, wo der Knödel ein Gedicht ist und die Musen Köchinnen, wo der Mensch darauf angewiesen ist, seinen Gefühlsbesitz an die Verrichtungen des äußeren Lebens zu wenden und aller Spielraum für Persönliches zwischen Essen und Verdauen gesucht und geboten wird, nur in Wien ist eine Annonce möglich, in der auf ein Kaffeehaus in der Porzellangasse nebst allem Stimmungszauber bereits die Erkenntnisse der benachbarten Psychoanalyse angewendet sind:

Eine Londoner Gesellschaft ohne Bibel ist gerade so undenkbar wie ein Wiener ohne eine Kartenpartie. Nicht allein das, es ist eine Haupteigenheit des Wieners, seine Lebensenergie gerade im Kaffeehause abzureagieren. Und dazu gehört Stimmung, mit einem Wort, ein echtes, elegantes »Wiener Café«.

Eine solche Stätte par excellence ist das »Café City«. Es ist unbestritten das vornehmste und mit allen der anspruchsvollen Zeit entsprechenden Forderungen eingerichtete Kaffeehaus im IX. Bezirk. — —

Die vornehme Intimität, insbesondere des Souterrainlokals, lädt unwiderstehlich zu Arrangements von Kegelabenden, Versammlungen und Unterhaltungen ein. Im Augenblick ist die vorzügliche Kegelbahn auf die praktischeste Art und Weise in einen veritablen, exquisiten Ballsaal umgewandelt. Die Wände sind mit Malereien von Künstlerhand geschmückt. Nicht vergessen erwähnt zu werden darf der reizend und diskret eingerichtete Ecksalon im ersten Stock, der für Damen den angenehmsten Aufenthalt bildet.

Von der Güte dieses Lokals des IX. Bezirks kann sich der Besucher überzeugen, wenn er am späten Nachmittag, am Abend durch seine Säle schreitet. Kunst und Großindustrie, das vornehmste Literatentum, Vertreter der Wiener Presse erblickt er in heiterer, zufriedener Laune, zu der den Hauptbeitrag auch die Bequemlichkeit des Cafés liefert, versammelt.

Diese berechtigten und würdigen Erfolge kommen nicht von selbst. Sie sind die Frucht des distinguierten Geschmackes und der warmen Liebenswürdigkeit des Herrn Laufer, eines der routiniertesten Cafétiers Wiens.

Es ist ja klar, daß ein Vertreter des vornehmsten Literatentums des IX. Bezirks das Gedicht verfaßt haben muß, und man könnte meinen, daß diese spezifische Verbindung von Farbe und Ton das Übel, das sich hier erbricht, bloß auf den IX. Bezirk reduziert erscheinen läßt. Aber das wäre Täuschung. Denn es ist ein weltumfassender Glaube, der hier im Jargon der psychologischen Bildung spricht, und vielleicht ist von ihm wirklich nur jene Londoner Gesellschaft ausgenommen, die eine furchtbare Erkenntnis hier auf die Bibel vertröstet. Jedes Wort, das in der Annonce geschrieben steht, ist wahr und tief. Was nützte es, einen Kordon um einen Stadtteil zu ziehen, der ein Weltteil ist? Nicht vergessen erwähnt zu werden darf hier etwas:

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Der alte Tanz auf dem alten Vulkan

Mär 2022
11

... oder ... Wenn alte Männer zu Tyrannen werden und überall nur Feinde sehen... 

Wer das Licht der Information aussperren muss, der braucht offenbar Finsternis für das, was er tut.    Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident

 

Krieg dem Kriege

Sie lagen vier Jahre im Schützengraben.
Zeit, große Zeit!
Sie froren und waren verlaust und haben
daheim eine Frau und zwei kleine Knaben,
weit, weit – !

Und keiner, der ihnen die Wahrheit sagt.
Und keiner, der aufzubegehren wagt.
Monat um Monat, Jahr um Jahr ...

Und wenn mal einer auf Urlaub war,
sah er zu Hause die dicken Bäuche.
Und es fraßen dort um sich wie eine Seuche
der Tanz, die Gier, das Schiebergeschäft.
Und die Horde alldeutscher Skribenten kläfft:
»Krieg! Krieg!
Großer Sieg!
Sieg in Albanien und Sieg in Flandern!«
Und es starben die andern, die andern, die andern ...

Sie sahen die Kameraden fallen.
Das war das Schicksal bei fast allen:
Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod.
Ein kleiner Fleck, schmutzigrot –
und man trug sie fort und scharrte sie ein.
Wer wird wohl der nächste sein?

Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen.
Werden die Menschen es niemals lernen?
Gibt es ein Ding, um das es sich lohnt?
Wer ist das, der da oben thront,
von oben bis unten bespickt mit Orden,
und nur immer befiehlt: Morden! Morden! –
Blut und zermalmte Knochen und Dreck ...
Und dann hieß es plötzlich, das Schiff sei leck.

Der Kapitän hat den Abschied genommen
und ist etwas plötzlich von dannen geschwommen.
Ratlos stehen die Feldgrauen da.
Für wen das alles? Pro patria?

Brüder! Brüder! Schließt die Reihn!
Brüder! das darf nicht wieder sein!
Geben sie uns den Vernichtungsfrieden,
ist das gleiche Losbeschieden
unsern Söhnen und euern Enkeln.
Sollen die wieder blutrot besprenkeln
die Ackergräben, das grüne Gras?
Brüder! Pfeift den Burschen was!
Es darf und soll so nicht weitergehen.
Wir haben alle, alle gesehen,
wohin ein solcher Wahnsinn führt –

Das Feuer brannte, das sie geschürt.
Löscht es aus! Die Imperialisten,
die da drüben bei jenen nisten,
schenken uns wieder Nationalisten.
Und nach abermals zwanzig Jahren
kommen neue Kanonen gefahren. –
Das wäre kein Friede.
Das wäre Wahn.
Der alte Tanz auf dem alten Vulkan.
Du sollst nicht töten! hat einer gesagt.
Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt.
Will das niemals anders werden?
Krieg dem Kriege!
Und Friede auf Erden.

Kurt Tucholsky (Juni 1919)