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Dichtung und Wahrheit – Ein Leben im Tollhaus

Aug 2023
31
“Die Welt wird gedichtet durch Menschen, die den Nerv zu starken Behauptungen haben. Und diese Behauptungen werden in Dogmatiken gefasst. Eine der größten Übertreibungen, die je formuliert wurden, ist diese: ”Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Nun konstituiert sich eine ganze Gesellschaft, indem sie sagt: Billiger als unter dieser Übertreibung machen wir es nicht. Letztlich handelt es sich um halb wahnsinnige Tiere, die beschlossen haben, unter dem Baldachin der Übertreibungen zu leben. Das ist meine Grundthese zur Seins-Frage. Wer in der Welt zu existieren hat, muss sich nach diesem Behauptungsspiel, dieser Grunddichtung der Welt erkundigen.”

Peter Sloterdijk

Wie Sie bereits wissen: Ich ringe schwer mit Wahrheit und Dichtung. Ich lese querbeet und ärgere mich über die Verantwortungslosigkeit des dahingeworfenen Wortes, der Lust an der größten Stichelei hin zur möglichsten Aufregung. Sicherheitshalber ist immer noch ein weiterer Artikel zu finden der das genaue Gegenteil als hochemotionelle Aufwallung bezüngelt. So kann man immer noch behaupten, man würde doch ausgewogen Bericht erstatten; die ganze Bandbreite abdecken. Und überhaupt, auf den Boten einzuschlagen habe sich schon bei den alten Griechen als Falsch erwiesen. Sommerloch oder nicht, nichts entgeht dieser Masche und so bedient jedes “Blatt” eine gewisse Strömung. Mit Emotionen! Debatten werden nicht mehr in der Bevölkerung oder den intellektuellen Eliten, sondern in diesen “Blättern” geführt. Angeblich berichten sie nur, doch schleicht sich immer öfter und immer mehr der Verdacht ein, dass sie es sind die die vorgeblichen Debatten führen und schüren. Die Blase ernährt sich Selbst und die monetären Notwendigkeiten der öffentlichen Wahrnehmung bedingen die bedingungslose Schürung des Feuers. Argumentative Debatten werden zu emotionalen Schleudern. Sachlichkeit und Gerechtigkeit ist nicht gewünscht, sie macht nur Arbeit. Am besten ist es wenn man nur noch Überschriften als giftige Pfeilspitzen abschießen muss. Die Kunst der Verdichtung im höchsten Maße. Gleichzeitig beklagen sie den Verlust des Vertrauens. Ich beneide Politiker daher nicht. Sie sind die bloßen Handlanger dieser Machenschaften. Ohne ihre Übersetzer, die Medien, sind sie nicht existent. Also müssen sie sie füttern. Meinen sie! Ihr Wort verdreht, die Aussage missachtet, alles auf den gezielt überschnappenden Aufreger ausgerichtet. So tickt die Welt! So jagt das Forum den Foristen.

“Als ich die Lust an der Wahrheit haben wollte, erfand ich die Lüge und den Schein – das Nahe und Ferne, Vergangene und Künftige, das Perspektivische. Da legte ich in mich selber die Dunkelheit und den Trug und machte mich zu einer Täuschung vor mir selber.”

(Nietzsche, Nachlass 1882/83, 5[1]244, KSA 10.216)

Inzwischen bin ich im Nietzsche Zeitalter meines Lebensalters angekommen. Gerädert! Verändert! Ernüchtert! Ich ringe mit der hohlen Erzählung. Alle Philosophie ergießt sich sinnentleert in ein trostloses Nichts. Von Platon zu Hegel zu Nietzsche ringt die Menschheit um Wahrheit. Um den Kern des Seins. Was im Anbeginne noch ein Ringen um die Absolutheit war, dem selbst die Skeptiker unterlagen, scheint sie sich im Laufe der Zeit aufzulösen. Nietzsche beendet dieses Ringen und stellt uns vor Augen dass die Wahrheit geopfert werden muss. Wir erkennen, dass der Wert der Wahrheit nur ein Glaube an die Wahrheit ist. So schnöde; ein metaphysisches Gespinst!

Im Willen zur Macht beschreibt Nietzsche letztendlich die tatsächliche Triebfeder des menschlichen Fortschritts. Nachdem sich alles andere letzthin als hohl und subjektiv, als nur bedingte Wahrheit herausgestellt hat, als Glaubensvorstellungen gepickt mit philosophischen und metaphysischen Dogmen, als etwas, dass nur dazu diente dem Menschen Halt zu geben im auseinanderstrebenden Universum. In das entgöttlichte Nichts. Auch in sich selbst! Ein Schritt in den Wahnsinn!

Die Bestimmung der Wahrheit als Fundament der abendländischen Philosophie

Sinn für Wahrheit [ist] im Grunde der Sinn für Sicherheit

Ich staune, wenn ich die intellektuellen Debatten durchlese, dass die Menschen diese Erkenntnis teils schon in sich aufgenommen zu haben scheinen, darüber schreiben und denken können ohne durchzudrehen. So werden ganze Bücher über die Narrative geschrieben denen wir zu folgen scheinen, ohne dass gleichzeitig der Anspruch der Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit postuliert werden kann. Doch ist das bedingte Wahrheiten eben nur ein Annähern, ein Erzählen, ein kurzer Halt im Drift. Selbst die noch so unverschämte Lüge im Gewand eines gekonnt gedrechselten Narrativs ist eine stimmige Erzählung und findet ihre Bewunderer und Zuhörer, ihre Follower, ihre Gläubigen. Es ist nicht mehr wichtig ob es sich bei diesen Alternativen Wahrheiten um Bestimmungen des eigentlichen Wahrheitens, also der Wirklichkeit des Seins handelt. Hauptsache ist, sie sind gut erzählt und erwecken im Mindesten die Emotionen der eigenen inneren Bestätigung. Eine Glaubensvorstellung in sich. So sind die größten Gläubigen gerade die Skeptiker und Verschwörungsanhänger, die Zweifler, die dem gesellschaftlichen Narrativ sich an einer gemeinsamen Wirklichkeit zu orientieren nicht mehr folgen können, weil sie dessen Unzulänglichkeiten erkennen. Die Enttäuschten. Damit zerbricht der Glaube an das Gesellschaftnarrativ und muss ersetzt werden, denn man kann ja gar nicht anders leben. Also glaubt man an die große Verschwörung und findet sich im erlauchten Kreise einer kleinen Elite, die das närrische Spiel durchschaut und klüger als der dumme Rest ist. Es ist also ein Spiel, ein immer wieder neu und anders erzählen dessen, was nicht verstanden ist. Denn darum geht es: Was nicht verstanden ist muss erzählt werden, damit es einen Sinn für die eigene Existenz ergibt. Eine Erfindung, um nicht vor der eigenen Leere zu entsagen; denn wer kommt schon vorgebildet als ein mit analytischer Vernunft Begabter zur Welt; die Wenigsten wie wir wissen!

An dieser Thematik arbeitet sich die Philosophiegeschichte ab und hat analytische Größen hervorgebracht, die uns erklären was es mit der Wahrheit auf sich hat. Nach Aristoteles ist Wahrheit das Werk” des Menschen, seiner Vernunft. Eine Tätigkeit, nicht so sehr ein Ding an sich, einer Ursprünglichkeit. So muss man nach Aristoteles also eher “vom Wahrheiten” reden, einer Tätigkeit die durch das geleistete Hervorbringen entsteht und dem Menschen, einer Gesellschaft eine mehr oder wenige bestimmte, entschiedene Entscheidungsgrundlage ausbildet. Trotz dessen ist das Seiende, also die Entität, das Absolute, dasjenige, was dem Menschen durch seine vernunftgeleitete Tätigkeit des Wahrheitens das Ziel ist, die Wirklichkeit, das Wahre. Es muss nur “notwendig, ewig und lehrbar” sein, dann erfüllt es die Voraussetzung für das Absolute, das Göttliche, die Wahrheit.

An dieser Stelle war Aristoteles den Philosophen entschieden voraus, denn man musste nicht mehr dem absolut Seienden in seiner eigenen Struktur und Auslegung als “Gottes Schaf” folgsam folgen, sondern mit eigenem Werk an ihm und sich mitwirken, einem höheren Ziele entgegen. An den zwei Strömungen der Platoniker und Aristoteliker - wir erwähnten sie bereits im anderen Zusammenhang - rieben sich die Kleriker und Analytiker, die Philosophen und Gesellschaftdeuter über die folgenden Jahrtausende auf. Denn worin sonst sollte das eigentliche Resultat der Philosophie erscheinen, als in der von Erkenntnis durchsetzten “wahren” Gesellschaftstruktur. Deswegen ist Philosophie immer auch schon Staatslehre, eine der ältesten wissenschaftlichen Disziplinen.

So entwickelten sich die Grundbegriffe und Dogmen der abendländischen Philosophie. Kunstvolle Begrifflichkeiten, ganze Kosmologien, der Begriffe vom absoluten Grund, Substanz, Vernunft, Wahrheit, Maß, Ordnung, Leben, Sein oder Nicht-Sein, Staat und Existenz.

Hier hakt Nietzsche ein und beginnt auf die gegenseitigen Verschränkungen der Dogmen hinzuweisen. Er läßt ihren bedingten Charakter aufblitzen und zeigt, dass nicht Wahr ist, was nur ein falscher Schluss ihrer Gegebenheiten ist.

“Es scheint mir wichtig, daß man das All, die Einheit los wird, irgend eine Kraft, ein Unbedingtes; man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und Gott zu taufen. Man muß das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; das, was wir dem Unbekannten und Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsre.”

(Nietzsche, Nachlass 1886/87, 7[62], KSA 12.317)

Hatte also die über zweitausendjährige Philosophie nichts anderes im Sinn als durch die kunstvolle Verflechtung der Begriffe alles bis hin zum göttlichen Sein, zugleich das Ziel als wie der Ursprung, zu erklären, der menschlichen Vernunft ihre Unbedingtheit und Unabhängigkeit gegenüber dem Leben und damit ihre Fähigkeit zur Gänze zu kommen, die Gottheit,  also die Wahrheit zu erfassen, als höchstes Ziel zu ermöglichen, so stellt Nietzsche ernüchtert fest, das diese Annahme nur ein Wunsch, eine Unterstellung ist und Wahrheit an sich nicht aufzufinden, weil alles Wahrheiten selbst ein Irren, ein reines Geschehen im Leben ist.

Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung (JGB 259).

Daraus ergibt sich letzlich die Radikalität, mit der Nietzsche die Philosophie entzaubert, bis hin zur eigenen Selbstauflösung. Das Leben als undurchschaubares Bedingungsgefüge wird zur unendlichen Plage der Aneignung und Überwindung, aber nicht als Bedingung gegenüber des göttlichen Seins, der absoluten Wahrheit, sondern nur gegenüber sich Selbst, den Entwicklungen und Irrungen die sich aus dem fortwährenden Plagen mit sich selbst ergeben. Der Mensch wird also distanziert zu dem nur angenommenen Gegebenen. Was bleibt ist sein “Wille zur Macht”. Das was ihn vorwärtstreibt. Nietzsche stellt also fest: „...es giebt keine ,Wahrheit‘“ !

Der Blitz der Wahrheit - “Warum ich ein Schicksal bin” - Von der zwingenden Notwendigkeit des Irrsinns

Die Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereigniss, das nicht seines Gleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal, – er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm … Der Blitz der Wahrheit traf gerade das, was bisher am Höchsten stand: wer begreift, was da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt noch Etwas in den Händen hat.

(Ecce Homo “Warum ich ein Schicksal bin”, Nietzsche an Franz Overbeck, 13. November 1888, Nr. 1143, KSB 8.470.)

Dieser Blitz durchfährt Nietzsche wie ein Fanal. Er sieht seine eigene Radikalität, von der er weiß, daß kein Stein auf dem anderen bleibt und alles sich selber verschlingt, wenn es keinen Ausweg findet. Ein radikaler Schnitt, der entweder alles zerstört oder in ein neues Zeitalter führt. Die Frage nach der Wahrheit ist also: „Nicht wie ist der Irrthum möglich, […] sondern: wie ist eine Art Wahrheit trotz der fundamentalen Unwahrheit im Erkennen überhaupt möglich ?“ (Nachlass 1881, 11[325], KSA 9.568).

Zuletzt: unsere idealistische Phantasterei gehört auch zum Dasein und muß in seinem Charakter erscheinen! Es ist nicht die Quelle, aber deshalb ist es doch vorhanden. Unsere höchsten und verwegensten Gedanken sind Charakterstücke der ‚Wirklichkeit‘. Unser Gedanke ist von gleichem Stoff wie alle Dinge.

(Nietzsche, Nachlass 1881, 12[11], KSA 9.578)

Der Ausweg aus dem Dilemma, dass das Ziel, die Absolutheit, der Grund des Seins und des Strebens als Wahrheit abhanden gekommen ist und sich alles nur noch um sich selbst dreht, scheint nur noch darin zu finden, dass das Geschehen und Wahrheiten, obwohl mit dem Irrtum, der Erkenntnis, der Unwahrheit behaftet, über sich selbst hinauswachsen, ein neues Wahrheiten erschaffen kann, so wie es auch ins Gegenteil hinein sich herab steigern kann. Wahrheiten ist also ein Geschehnis, ein Tun, ein Verhalten in der gewollten aber unvollständigen Wahrhaftigkeit, ein kurzer Moment der Unabhängigkeit, ein Schaffen im Moment des freiheitlichen Erringens.

„Wahrheit“ ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgiebt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, nicht ein Bewußtwerden von etwas, das „an sich“ fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den „Willen zur Macht“.

(Nietzsche, Nachlass 1887, 9[91], KSA 12.385).

Aus der Distanz ließe sich nun sicherlich sagen, dass dieser radikale Denker im entscheidenden Schritt einen Rückzieher macht und doch noch eine Sinn im Schlamassel finden will. Nietzsche ahnte wohl die Unbedingheit des eigenen Untergangs. Den Schritt in das zwingende Ende all dieser Erkenntnisse und Jahrtaus‹ende› ! Und doch findet er eine klare Definition für die Wahrheit.

Als „Wahrheit“ wird sich immer das durchsetzen, was nothwendigen Lebensbedingungen der Zeit, der Gruppe entspricht: auf die Dauer wird die Summe von Meinungen der Menschheit einverleibt sein, bei welchen sie ihren größten Nutzen d. h. die Möglichkeit der längsten Dauer hat.

(Nietzsche, Nachlass 1881, 11[262], KSA 9.541)

Jetzt müssen wir bald die Kurve kriegen, sonst droht dies nur ein Werk über Nietzsche, das philosophische Vorher, das zerbrochene Nachher zu werden. Über die verschiedensten Nietzscheaner, die ihn missverstanden für ihr Zwecke missbrauchten, über die Anhänger der Absolutheit, die diesen Anti-christen zum Teufel wünschten, oder ihn gar zu diesem Selbst machten.

Der Mensch entscheidet also nun durch die Aufgabe des Absoluten in den selbst geschaffenen Spielräumen des Wahrheitens über die Maßstäbe der Wahrheit selbst. Wahrheit a priori aber gibt es nicht. Noch eine Wahrheit a posteriori. Nur ein ‚Wahrheiten‘ im ‚Irren‘. Somit wird der Schein das alles Bestimmende, und die Lüge (durch den Irrtum) der eigentliche Held im menschlichen Erkennen, im Wahrheiten. Ironischerweise besitzt Nietzsche eine alles durchdringende Ironie im Erzeugen dieser Umkehrung allen Seins. Er ist sich seines Tuns bewußt:

Dieser Glaube an die Wahrheit geht in uns zu seiner letzten Consequenz – ihr wißt, wie sie lautet: – daß, wenn es überhaupt etwas anzubeten giebt, es der Schein ist, der angebetet werden muß, daß die Lüge – und nicht die Wahrheit – göttlich ist .…?

(Nietzsche, Nachlass 1886/87, 6[25], KSA 12.243)

Man beachte die ausgiebige Nutzung von Gedankenstrichen und Auslassungen, von all dem was nur gedacht werden kann, oder im Leser erst seine Wirkung entfalten muss. Von den Hintergedanken, die auffordern sich seinen eigenen Reim zu machen. Von den Kosmen des Unausgesprochenen, die – einen Dialog im Wahrheiten des gemeinsamen Denkens ermöglichen. [ Ich bin ein Freund dieser Art von Korrespondenz! ] Und er gerät an seinen inneren Rubicon. Danach gibt es kein Zurück mehr. Er trägt das Schicksal des Menschen. Er ist das Schicksal selbst !

Meine Philosophie – den Menschen aus dem Schein herauszuziehen auf jede Gefahr hin! Auch keine Furcht vor dem Zugrundegehen des Lebens.

(Nietzsche, Nachlass 1881, 13[12], KSA 9.620)

Damit entzieht er sich und uns den Boden auf den alles gestellt ist. Die Wahrheit ist als Schein entlarvt, ein Trugbild; wahrhaftig ans Licht gebracht, unter gleichzeitiger Feststellung, dass jede Feststellung solcherdings ihrerseits ein Irren ist. Das kein umfassendes gültiges Ziel am Ende des Ringens zu finden ist, das in der Wahrheit kulminiert. Das die Zerstörung einer einmal erkannten Illusion auch keine Wahrheit, sondern nur ein weiteres Perpetuum a la Sisyphos ist. Jener ,Stein der Weisen‘, mühsam emporgeschafft, immer doch gleich wieder hinunterrollt. Das schwirrrend nun auszuhalten ist, dass im Tun des Wahrheitens, im Willen zur Wahrheit, dem Ziel Wahrheit zugleich bedingungslos entsagt werden muss. Wer da nicht entsagt, oder Irre wird, kann sich nur zurücknehmen und seine “Ziele” und Orientierungen auf ein Maß zurechtstutzen, das uns erlaubt mit dieser Ungeheuerlichkeit zu leben. Wie gut und weise als ironisches Bonmot am Ende der Zeit ist da die Welt bestellt, ja ..., denn: „Wer tief in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind“, dass sie „Furcht vor der Wahrheit“ haben (JGB 59).

Das ist Nihilismus. Die “philosophische Anschauung von der Nichtigkeit, Sinnlosigkeit alles Bestehenden, des Seienden”. Nur noch auszuhalten durch die bittere Ironie des distanzierten, zurückgenommenen Betrachters. Als besonderer Nihelismus nach Nietzsche (lt. Paul van Tongeren) ist dieser (in umgekehrter chronologischer Reihenfolge): “(3) die Korrosion (2) der schützenden Struktur, die errichtet wurde, um (1) die Absurdität des Lebens und der Welt zu verbergen”.
Klasse! 😄😁😀

Wo stehen wir nun damit?

Wir stehen also auf sehr wackeligen, um nicht zu sagen tönernden Füßen. Was sagt uns das über die “Alternativen Wahrheiten” von heute? Über die methodisch angewandte Lüge die in Kenntnis des menschlichen Verhaltens des “besser nicht so genau Wissen wollens” von der bewußten Lüge und unwahrhaftigen Erzählung regen Gebrauch macht? Die anders als von der “Wahrhaftigkeit” und “Orientierung an der Wirklichkeit” bestimmt, uns zu einem wie auch immer geleiteten Handeln verführen will? Das “Tinder für Erwachsene”? Als “wisch und wech...”, nur noch reaktiv den Schemen unterworfen, die die eigenen Blasen nähren, ... Erzählungs-Zunder, schnell und leicht entzündlich, hingeworfene Happen für den schnellen Gebrauch, das schnelle Schnappen, die nichtreflektive Erregungszone ... und ja, auch über die eigene Ethik, den moralischen Kompass dem man folgt, dem jetzt korrodierten Sinn und Halt für das eigene ,wahrhaftige‘ Handeln, ach, ... atemlos atmend im Tollhaus ... , ja, ... zu verzweifeln am um sich greifenden Verlust der Wahrheit – auch in sich selbst – und zum letzten Strohhalm zu greifen..., der amor fati, der Liebe zum Schicksal, ... zur Paradoxie fähig zu werden, das Hässliche, wenn es notwendig ist, als das Schöne zu sehen, es also umzuwerten. Den erkannten ,Schein‘ im ,Anders-haben-Wollen‘ gleichzeitig als das ,Nichts-anders-haben-Wollen‘ zu sehen und damit wunschlos happy zu werden...?!

Das überhaupt ist es das Nietzsche aus diesem Ende der Zukunftfähigkeit zieht, dem Verzicht auf Zukunftsorientierung überhaupt.

Wahrheit ist die Art von Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth für das Leben entscheidet zuletzt.

(Nietzsche, Nachlass 1885, 34[253], KSA 11.506)

Höre ich da nicht meinen Kafka? 😙 Einmal “um den Block/g gegangen” und die Wahrheit als die Tätigkeit des Lebens erklärt, ohne die jenes gar nicht sein kann und die sie zugleich durch sich selbst erst zustandebringt? Die drohende Wand des Nihilismus als Ende der Bewegung, als Ende der Notwendigkeit, als Ende des Strebens macht die Umwertung aller Werte notwendig, damit ein neuer Spielraum entsteht. Eine Bewegungsfreiheit für den denkenden Geist im Angesicht der Erstarrung. Das Eine, Umfassende, das ,Aus Dem‘ und ,In Das‘ ist zerschellt und hat sich als das große ,Nichts‘ erwiesen, dessen man sich dennoch auch nicht ganz sicher sein kann. Zurück bleibt das Leben selbst. Mit einem Lächeln! Das Kleine gewinnt wieder an Bedeutung, ein Buch, ein Gedanke, ein Sinnen, eine Tätigkeit im Leben selbst.

Der herrliche Kristallleuchter ist also von der Decke gefallen und in tausend Stücke zersprungen. Seine lichtfunkelnden Einzelteile haben sich als mehr oder weniger verdichtete Dichtungen, als reine Erzählungen, Fiktion, Poesie, als Bruchstücke des Werdens von Halt und Sinn ergeben. Hier wird mein Lebens als Dichter, als Abkömmling des Abdichters, verdichtet und fällt gleichzeitig über den Ereignishorizont in ein schwarzes Loch vernichtet, als reine Erzählung überführt, dem selbst kein eigenes Wollen mehr entfährt jemanden ,Anders‘ von etwas überzeugen zu wollen, einer verdichteten Erzählung, meiner Erzählung zu folgen. Denn seien wir ehrlich, der ,Wille zur Macht‘ ist doch auch nichts anderes als der Wunsch die Führung einer Erzählung zu übernehmen die in anderen weiterlebt, von ihnen ernähret und gestützt wird, in der dem eigenen Handeln ein Sinn in der Reflexion verliehen wird. Dann kann man weiter wollen / leben ! Wir funkeln also nur, in dem wir – besser, unsere Erzählung – in anderen weiterlebt. Und das geht nicht mehr wenn der kristallene Lüchter zerschellt am Boden liegt !

Überlassen wir das Wahrheiten dann also besser der gerade hoch in Mode stehenden “Künstlichen Intelligenz” (KI), die das menschliche Summarium der Dichtung in Tokens atomisiert und dann immer wieder neu – errechnet – zusammensetzt ? Und dabei sogar – wie menschlich, allzumenschlich – gar vor sich hin träumt und Dinge erfindet ? Sind die Prinzipien der Betrachtung, in den getätigten Aussagen, ob wahr und nützlich, ob moralisch richtig und ob auch authentisch noch haltbar, wenn wir nicht mal den eigenen Aussagen trauen können ? Was sagt uns das nun ? Können wir dann das Virtuose, Akrobatische, Künstlerische als das eigentliche Wahrheiten im Tun des Menschen sehen ? Wird uns der Wert der Wahrheit, der Wert des Wahrheitens, erst in der Zurücknahme oder im virtuosen Umgang gewahr ? Ist dann die Besinnung auf die Formel, dass der Mensch nur mit seiner Akzeptanz “von ,etwas‘ als wahr auf eine selbst nicht mehr allgemein bestimmbare Weise eine Möglichkeit findet, sich in der Wirklichkeit zu orientieren” ausreichend ? Dass er dadurch überhaupt nur jene Möglichkeit findet, dem Haltlosen für eine kurzen Moment Gestalt zu geben, damit er in ihr leben und sich ausrichten kann ?

Der Mensch ist also ein “halb wahnsinniges Behauptungstier”, das unter dem “Baldachin der Übertreibung” lebt. Er stellt sich seine Ethiken nicht Aufgrund von Orientierung an der Wirklichkeit, sondern von aufgestellten “Wahrheiten” – “Behauptungen”, denen er nie wird genügen können, solange er in das Leben eintaucht. Jedes Eintauchen und Mitgestalten wird ihn aus seinem fernen Elfenbeinturm ziehen – hinein in das Leben – und damit in die Lüge und die Unwahrhaftigkeit bringen. Je mehr er eindringt, desto stärker wird er kompromitiert. Zwangsläufig !

Prinzipien im Umgang

Uns droht also allemal das Schwarze Loch, gierig wartend all unsere Hoffnungen, Energien, Bewegungen, Klarheiten, Systeme und Galaxien, unser Licht und unsere Motive, unser Leben selbst zu verschlingen. Eine energetische Umwandlung in Schwerkraft ! Wir können dem nicht entrinnen ! Die Geistesstarken von uns werden am Ereignishorizont erleuchten. Für eine kurzen Moment das Dunkel erhellen. .... Ich liebe daher diejenigen, die es schaffen, sich – trotz aller sich auftuenden schwarzen Löcher – ihren inneren ,‹ Eulen › ‹ spiegel ›‘ zu bewahren. Die sich auftuenden Schlünde der Paradoxien mit Humor zu bekämpfen, das Oben mit dem Unten zu verbinden. Es ist das einziges was hilft, um weiterhin genügend Distanz zur allverschlingenden Instanz zu behaupten und sich die Spielräume des Denkens zu bewahren !

Als da sind und jene die mich umtreiben, sofern sie mir gerade jetzt auch in den Sinn kommen. Leitsätze und Prinzipien:

»Im Spiel wird der Mensch erst Mensch«

»Staunen als Prinzip«

»Optimismus ist Pflicht«

»Zweifle, wenn etwas im Gewand der absoluten Wahrheit daherkommt«

»Sei dir bewußt dass alles Wissen nur ein Glauben ist«

»Lächeln ist notwendig; Darin entscheidet sich der Wert des Lebens«

Denn wie ist es doch im Leben, dass des Menschen Werk im Wesentlichen ein aufknoten, ein problemlösen ist. Also, ,Alles Leben ist Problemlösen‘ (Popper). Um Probleme zu lösen, von den alltäglichen bis hin zu den großen Fragen des Dasein, von den Bedingungen und Verzahnungen der Notwendigkeit und Bedeutung, von Wahr und Unwahr, wenigstens für den eigenen Kompass, muss ich aufklärerisch denken, um nicht zu sagen, ich muss selbst denken ! Ich weiß aber, dass ich selber auch nur glaube dass ich so denken kann. Mehr geht nicht. Ich ,will‘ aber an diese Kraft glauben, sonst kann ich das Denken und Lösen auch gleich sein lassen. „Habe [also den] Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, der Leitspruch der Aufklärung nach Kant, wichtig allemal. Aufklärung als Ent-Täuschung (Bazon Brock), ebenso. Um Mensch zu bleiben muss ich also dazu des Spielen(s) fähig (Schiller), muss trotz der allfälligen Enttäuschung verpflichtend Optimist (Popper) und muss schon aus Prinzip fähig sein zum Staunen (Adam Smith), das Fremde, Andere, und darin die Leistung, ihre Tätigkeit selbst, überhaupt zu erkennen; anzuerkennen. Muss Distanz wahren und gleichzeitig genau hinsehen. Ich muss die Narrenkappe aufsetzten, um nicht in die Falle des heiligen Ernstes zu laufen, oder gar vermeintliche Gewissheiten zu verkaufen. Muss Heiliger, Kritiker, Gärtner, Narr und Kind sein.

– 😁 –

Wer muss da nicht an das Lachen der schönen Magd, der Thrakerin, sich erinnert fühlen, als der Naturphilosoph Thales von Milet vor ihren Augen in den Brunnen fiel, weil seine Augen suchend gen Himmel gerichtet waren und somit das ganze Debakel der abendländischen Philosophie offenbarte, “dass die Liebe zur Weisheit mit der Distanzierung von der Lebenswelt erkauft werden müsse”. Wir brauchen den lachenden – zumindest aber den heiteren Philosophen !

 

(* JGB), Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886
(* KSA), Kritische-Studien-Ausgabe von Nietzsches Werken, ab 1980

 

Dies ist nicht das Ende

Frost und Hölle! Von Schildkröten und ihren Bedürfnissen

Mär 2023
10

Leicht skeptisch, etwas trotzig, aber gleichmütig, mit gehobenen Brauen, blickt sie in die Kamera.
Das Leben hat sich in diesem Gesicht verarbeitet; Zäh wie Leder, einer alten Schildkröte gleich.
Ihr Haupt umrundet ein Geflecht aus leuchtendem Krepp. Die Augen, - fern, und wässrig müde. Blickten sie doch allzu lang schon in die Welt und sahen wilde Zeiten rollen; - kommend, - gehend.
Sie haben ausgesehen; ihren Dienst verrichtet!

128 Jahre sind eine lange Zeit. Johanna Mazibuko lebte in der britischen Kolonialzeit, sah die selbstverwalteten Anfänge der Afrikanischen Union, überlebte die schreckliche Zeit der Apartheit und feierte Nelson Mandela, der ein ganzes Volk glücklich in einen afrikanischen Traum zur Befreiung führte. Die Buren wären, ob der begangenen Greuel und hinterlassenen Wut, sicher zu Tausenden abgeschlachtet worden, hätte Mandela nicht seine schützende Hand erhoben und einen schmerzvollen Aufarbeitungs- und Heilungsprozess in Gang gesetzt.
Sie hat auch diesen überlebt und begriff, dass große Ideen und große Führer, wie es Mandela sicher gewesen ist, ihre Ausstrahlung verlieren und verblassen, sobald die Macht an die Kleptomanen und Egomanen übergeht, im ewigen Spiel um Geld und Macht.

Was wollen sie? Anerkennung! Und bekommen sie diese nicht über Menschlichkeit und Verständnis, über ein sorgsam angeeignetes Charisma und geistiger Strenge gegenüber sich Selbst, kehrt sich mancher schnell in das genaue Gegenteil und verfolgt Andersdenkende mit brutalster Härte. Das Gesetz des Dschungels, der Savanne, unserer Ahnen; Sieger ist wer überlebt!
Moral und Anstand sind für Schwächlinge! Wer zu essen hat, hat Recht!

Rede ich von Afrikanern, die bis heute, in plötzlichen Anfällen von archaischer Wut, immer noch nicht gelernt haben sich nicht gegenseitig umzubringen, die Macheten zu schwingen, kleine Kinder zu brutalsten Mördern abzurichten? Nicht unbedingt! Denn dieses Gen steckt in uns allen! Wohnen sie denn in den heißen Gegenden des globalen Südens, oder in den sibirisch kalten Nordländern; im Westen, wie im Osten. Einerlei!
Mit dem Tauen des Permafrostes kommen diese Gewohnheiten und Gewissheiten wieder zum Vorschein. Eiswürmer des Grauens!

Mächtige Narrative einer wagen Idee kommen sich ins Gehege. Freiheit gegen Bevormundung! Beide haben Recht, in ihrer eigenen Weise. Weder sind die Menschen fähig in völliger Freiheit zu leben und zu handeln, denn es macht sie zu Egoisten. Das Gesetz der alten Gene. Noch aber sind sie nur fremdgesteuerte, willfährige Diener, die in beschränkter Amnesie hordengleich jedem Schwenk ihrer geistigen Ordnung und Kaisers folgen. Sie müssen sich aber darüber hinaus entwickeln. Konsum oder Zwang werden nicht lange als Ersatz taugen. Sie sind zu billig und taugen nicht für den inneren Fortschritt!
Regeln und Ordnung brauchen beide. Manipuliert werden beide Systeme, so dass sie am Ende nur noch Hüllen sind, in denen die Puppenspieler ihre Machtspiele spielen.

Ich rede nicht von den wenigen Ausnahmen. Den Menschen die sich entwickeln. Die gelernt haben all die Teile der vorherigen Erfahrungen und Konsequenzen zu einem Teil ihres künftigen Handelns und ihrer Werte zu machen. Die Freiheit sich zurückzunehmen für die Freiheit des Anderen. Ein steiniger Weg und auch schwieriger Anspruch in der Entwicklung des Menschen. Und nur wenn ein genügend großer Teil diesem Anspruch genügt, ist die Menschheit bereit die nächste Stufe ihrer Evolution zu nehmen.

Wir sind an einem Kipppunkt. Mit ihrer Maßlosigkeit und Ignoranz hat es die Menschheit geschafft die alten Geister wiederzuerwecken.
Das Eis schmilzt. Säbelzahntiger und Scharen von Schädlingen kriechen empor, bereit sich in die giftige Schlacht zu werfen. Die Jahrhunderte der Aufklärung und des Humanismus werden in ihren eigenen Staub zurückgeworfen. Die Saat scheint nicht angegangen. Haben zu viele der Gärtner ihren Job gekündigt, oder gar ob des plötzlichen Wassermangels resigniert? Die jungen Pflanzen vergilben, verdorren. Doch gerade dort brauchen wir am allernötigsten Hilfe um die wiedererweckten Scharen der Vergangenheit in den Griff zu bekommen. Sonst kann der wildgewordene Säbelzahntiger gleich seine irren Atomdrohungen wahrmachen und die Welt in den totalen Abgrund zurückbomben. Die Brasiliens, Indiens und Chinas dieser Welt werden sich schön wundern, dass sie doch auf der selben Erde leben (wollten)!
Ich bin nicht Willens diesen Irren unwidersprochen freie Bahn zu geben, nur damit ich meine Ruhe habe!

Vielleicht sind die großen Länder und Systeme nicht fähig zur Erneuerung. Erneuerung braucht engagierte Menschen. Menschen die dort anfangen wo sie selber sind oder sich einbringen und kleine selbstverwaltete Gemeinschaften bzw Gemeinschaftsstrukturen neu denken und erfinden.

Bei all den schlechten Nachrichten die immer gehäufter auf einen niederprasseln und einem jeglichen Optimismus rigoros vertreiben, sind es diese kleinen Nachrichten einzelner Menschen oder lokaler Gruppen, die einfach anfangen es besser zu machen. Sei es an den Küsten rund um den Indischen Ozean mit der Wiedergewinnung von Nachhaltigkeit durch Schonung der Fischbestände und Aufforstung der weggeholzen Mangroven, alles initiert von einer kleinen Gruppe sehr engagierter Menschen mit einer klaren einfachen Idee, Eden Reforestation Projects, die die Küstenmenschen befähigt ihre direkte Umwelt nachhaltig und damit zukunftssicher zu bewirtschaften, oder in der Sahelzone mit der schlichten Idee der “unterirdischen Wälder”, die zum Leben wieder erweckt werden können, angeleitet von einem Australier, Tony Rinaudo, mit einer ebenso klaren und einfachen Idee, der Befähigung. Eines Auswegs!
Kein Geschwafel, kein Gerede. Keine langatmigen Konferenzen, keine kurzatmigen Gelder aus Entwicklungstöpfen. Einfach klares, ideengesteuertes Handeln, im Einklang mit der Natur.
Bravourös! Ich ziehe den Hut tief und verbeuge mich vor Scham!

Wir aber leben in Systemen die bis zur Erstarrung in Gesetzmäßigkeiten stecken, die keinerlei Bewegung mehr zulässt. Alles ist geregelt, zerregelt!
Zu viele Köche verderben den Brei. Schaue ich auf das Schulsystem in Deutschland wird einem ganz bang. Alle wollen und sehen die Notwendigkeit, aber keiner ist fähig wirklich etwas zu verändern oder Neues zu probieren. Alles erstarrt in den gewordenen Regelungen. Finnland, noch vor Jahren so hochgelobt, hat es vorgemacht. Horden von Besuchern aus aller Welt haben es sich immer und immer wieder angesehen und die Erfolge gesehen. Was ist davon geblieben? Sie müssen resigniert haben, denn heute redet keiner mehr davon. Und so blieb alles beim Alten. Hauptsache ist, dass alle was zu reden haben.

Bei Weitem kein Einzelfall! Mit der Digitalisierung ist es doch ebenso. Hehre Ziele, die im Nichts verpuffen. Warum? Weil die Regelungswut und die “German Angst” alles zerstört.
Ich ertappe mich selbst als einen derjenigen, die wegen wohlgemeinter und nicht unbegründeter Sorge vor den Gefahren warnen und zögern. Die aus bitterer Erfahrung den mauschelhaften Vergabepraktiken unserer Politiker mißtrauen. Denn sie treffen grundsätzlich auf Räuber. Räuber die sich häuslich in den Lobbyfluren der Regierungen niedergelassen haben. Kein Gemeinwohlgedanke steht im Vordergrund. Nur Bereicherung. Qualität und Schlichtheit sind nicht erwünscht. Sie bringen kein Geld.
Zunehmend muß ich also auch mich selbst in Frage stellen, ob diese Art des zögerlichen Handelns noch angebracht ist. Kleinere Länder wie Dänemark und andere machen es einfach vor.

Zwanzig Jahre zögern aus Sorge, sind ein viel grundsätzlicherer Verlust als das einfache und konsequente Heben des Schatzes. Wenn ich an all die Projekte zurückdenke, die ich im Laufe meines langen Lebens, - Johanna Mazibuko vergebe mir -,  bewußt wahrgenommen, als politisch anvisiert und dann nicht oder nicht konsequent genug verwirklicht gesehen habe, so fallen mir fast keine Gegenteiligeren mehr ein. Und ich muß zugeben, ja bekennen, dass wir den Stillstand mehr zu schätzen scheinen als den Fortschritt.

Wir sind zu faul und zu behäbig! Traurig. Wir werden gefressen von den Gierigen die sich 120 Millionen für eine App bezahlen lassen, oder ihre Verträge wohlweislich unter Geheimverschluss stellen lassen. Wenn man Ihnen wenigstens da auf die Finger sehen könnte, würde ihr Gebaren offenbar.
Auf dem armen Mann wird viel und ungerecht herumgehauen. Aber Karl Lauterbach macht es richtig. Zwanzig Jahre (zer-)reden für nichts. Jetzt ist Schluss!

Ich wünschte, wir könnten einfach alle mal die Klappe halten. Ein, zwei Jahre. Und in der Zeit bauen wir alle wie verrückt. Schulen, Windräder, Zugstrecken, auch Autobahnen wenn es unbedingt sein muss, Stromleitungen, Tunnel, Wohnungen, und bestellen endlich einfach und schlicht das Material was uns fehlt. Jetzt! Ohne den ganzen Klimbim! Macht die Beschaffungsämter dicht derweil und gebt den Leuten zwei Jahre bezahlten Urlaub. Sie sollen nachdenken, wie wir zu mehr Schlichtheit und Einfachheit zurückkehren.

Mit diesen Worten legte sich die alte Schildkröte nieder und sagte: Es ist getan! Solvitur ambulando!
Sie freute sich insgeheim ihren alten Ofen endlich wieder in Gang zu setzen und sich das erste leckere Essen nach langer Zeit zu kochen.

Wenn eine positive Formulierung für das Optimum gewonnen wird, rücken die nihilistischen Irrlichter an den Rand. Die Vorfreude darauf, was aus einem normalen Leben heraus erreicht werden kann, würde so stark werden, dass die Leuchtfeuerwirkung eines Bildungsideals für das kybernetische Zeitalter die Menschen aus der aktuellen Lethargie zöge.

Peter Sloterdijk

Am Nasenring durch die Manege - von Souveränität und Freiheit

Mai 2022
22

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;

man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.

Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

Karl Kraus, Band 9 (Gedichte), S. 639. Vgl. Die Fackel Nr. 888, Oktober 1933, S. 4.

 

Von der verzweifelten Suche nach Beständigkeit im Momento der Zerbrechlichkeit...
und vom Versuch im Nebel eine “
Sprache zu finden gegen den Druck, der sie nimmt ! ”

Der Mensch möchte gerne betrogen werden, belügt er sich doch fortwährend selbst. Er möchte glauben. Glauben an die Wahrhaftigkeit einer Erzählung, eines Gegenübers, eines Getreuen, einer Existenz, einer allumfassenden Bestimmung des Seins. Angesichts der Masse mit der wir heute Meinungs.bildend konfrontiert werden ist dieses urmenschliche Verhalten umso auffälliger. Man muss zweifeln. Das ist das was man aus dem sich entwickelndem Leben lernen kann und lernen muss. Aber das stete Zweifeln ist anstrengend und da als Mensch von Natur aus ebenso dem Schlichten zugewandt, verstärkt der Zweifel den Glauben. So sitzen wir gefangen in unseren Blasen und vertrauen dort auf das Gute, das Bestätigende, das Wahre und Wohlmeinende. Es ist zum Verrücktwerden! Von der Wiege bis zur Bahre ein dorniger Weg.

„Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos“
 

Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft, 1991; 5. Aufl., Verl.: J.C.B. Mohr. S. 36

Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ (Sokrates). Dieses unfassbare Gestammle aus Deutungen, Erzählungen, Geschichten und Kommentaren; alle ohne Anfang und Ende, in sich schlüssige oder auch nur postulatische Übersetzungen des Gewordenen, eines Geworfenen und Getanen, oder eben nur Herbei.gewünschten, Herbei.geschriebenen, machen mich kirre. Ich habe Erscheinungen, kurze Helligkeiten, die alsbald wie Seifenblasen zu zerplatzen beginnen, nichts als ein beständiges plopp plopp und Kreise einer sich ausbreitende Leere hinterlassend; die mich sprachlos machen!

In meinem Ringen um Worte vergehen die Zeiten. Gestern noch tiefes Gefühl und als Suche des Ausdrucks, heute schon Schall und Leer, nichts anderes als das was ich zu kritisieren suche auf meiner verzweifelten Suche. Dann und wann fällt einem eine Perle aus vergangenen Zeiten vor die Füße, in der ein Recke mit größerer Potenz die Fackel schwingt und mit seinem Lichtschwert der Worte so tüchtig in die Landschaft haut, dass es eine wahre Freude ist. Man wagt zu fragen wie es sein kann, dass solche Texte auch heute noch passen, wo wohl der wortgewaltige Karl Kraus unserer Tage zuschlägt und die Geschichtenerzähler und Dummschätzer, ja das ganze Gewese der Journaille von Heute entlarvt... die kaum je besser geworden zu sein scheint.

Heute leben wir in Meinungsinfektionen, Epidemien der Erregungskultur (Sloterdijk). Alles wird hochgejazzt und Erklärendes - soweit überhaupt vorhanden - verschwindet hinter den Paywalls. Es geht eben nur noch ums Aufmerksamkeitsgeheische. Zahlt der Gutgläubige seinen Obolus bekommt er den Rest zu sehen und wird meist schwer enttäuscht, setzt sich doch das Gestammele und die enervierende Erregungskette fort, wo der hilflose Geist sich dem Zeitgeist konfrontiert sieht.

Nun denn... Soll er statt meiner sprechen. Hoch die Tassen!

(Ob der Länge etwa(s) zwei.geteilt)

Aufnahme von Charlotte Joël (1930)

Dezember 1912

Karl Kraus

Untergang der Welt durch schwarze Magie

Ich habe Erscheinungen vor dem, was ist. Ich mache aus einer Mücke einen Elefanten. Ist das keine Kunst? Zauberer sind die andern, die das Leben in die Mückenplage verwandelt haben. Und der Mücken werden immer mehr. Oft kann ich sie nicht mehr unterscheiden. Tausend habe ich zu Hause und komme nicht dazu, sie zu überschätzen. Bei Nacht sehen sie wie Zeitungspapier aus und jedes einzelne Stück lacht mich an, ob ich nun endlich auch ihm die Verbindung mit dem Weltgeist gönnen wolle, von dem es stammt. Gegen die Plage dieser Ephemeren gibt es keinen Schutz, als sie unsterblich zu machen. Das ist eine Tortur für sie und für mich. Doch wachsen sie nach und ich werde nicht fertig. Finde ich da ein Stück:

Man hat ihn mit Geschenken, Blumen, Reden gefeiert. Die Vertreter der Stadt und des Landes, das Zivil wie hohe Offiziere wetteiferten darin, diesem Jubilar zu zeigen, daß so redliche Tüchtigkeit nicht nur Ehre, sondern auch herzliche Zuneigung einbringt.

Was war das nur? Warum habe ich das aufgehoben? »Man hat ihn ...«: dieser Ton muß einer Feier gelten, die schon etwas Selbstverständliches hat. Was kann es nur sein, wobei Stadt und Land, Zivil und Militär wetteifern? Grillparzer? Der Ausschnitt ist doch nicht so alten Datums, und damals hat man sich noch nicht so ins Zeug gelegt für die Jubilare. »Herzliche Zuneigung«: das würde für Alfred Grünfeld sprechen, aber da gibts keine Vertreter des Landes. »Redliche Tüchtigkeit«: für Schnitzler, aber da rückt wieder das Militär nicht aus. Auch dürfte es sich nicht um einen der Fünfziger handeln, die heuer wie falsches Geld herumlaufen, sondern eher um einen, der seit fünfundzwanzig Jahren — ich weiß es nicht, aber man sollte mir helfen. Man muß doch schließlich schon viel besser als ich wissen, wem ein verlorener Tonfall gehört. Ich habe die Übersicht verloren. Ich kann nicht mehr mit Sicherheit sagen: So haben die Wiener einen ihrer titanischen Kaffeesieder gefeiert. Denn inzwischen ist ein Geschlecht von Epigonen nachgewachsen, und denen wird auch schon gehuldigt. Ich sehe zum Beispiel irgendwo ein Bild: ein Ehepaar. Er ein Charakterkopf. Darunter steht — wie eben immer die Tat, die den Mann berühmt gemacht hat, mit einem Schlagwort, gleich unter dem Bild und vor der eigentlichen Biographie, umrissen wird:

Cafétier Anton Stern, der Besitzer des Wiener Café Prückl, und seine Gattin, die in eigenen Autos die Gäste gegen Erlag einer Krone in ihre Wohnungen fuhren lassen.

Ja, so hat er ausgesehen, das hat er vollbracht; ein Blick, und man übersieht ein Leben und ein Werk. Überall Bild und Wort zur Feier genialer Initiative. Aber das Wort klingt wieder anders. Gibt es da noch Varianten? Fest steht: er hat den Gedanken gehabt, die Gäste gegen Erlag einer Krone — — Endlich der vertraute Hinweis: »Heuer zaubert er ...« Nämlich aus den Souterrainlokalitäten das Schmuckkästchen hervor, weiß schon weiß schon. Wo ich hinschaue, lese ich und sehe ich das jetzt. Das ist eine Welt von Taten und Tönen, die mich vollends bezaubern würde, wenn ich nicht neben mir die Stimme des Advokaten hören müßte, der mir fortwährend zuraunt: Aber das weiß doch so jeder Gebildete, daß das bezahlt ist! Oder: Wissen Sie sich keine ärgere Übel zu beleuchten? Harden hat doch größere Themas ... Nun weiß ich ja nicht, ob die Fähigkeit, solche Stimmen zu hören und gleich mitklingen zu lassen, wenn ich die Gefahr eines Cafétiers überschätze, mir nicht doch endlich als das größte Thema angerechnet werden wird. Fast glaube ich, daß ich nie einer Gesellschaft, die Einwände erhebt, begreiflich machen werde, daß der Einwand die Überschätzung erst berechtigt, ja mit dem Übel selbst übereinstimmt, und daß der Zeuge identisch ist mit dem Täter. Denn diese Gesellschaft läßt sich nur das begreiflich machen, was sich begreiflich machen läßt, aber ihre eigene Unbegreiflichkeit, die ein Motiv künstlerischer Ahnung ist, entzieht sich ihrem Verständnis. Der Advokat soll und darf den für irrsinnig halten, der dabei bleibt, daß der gesamte Balkan viel unwichtiger ist als eine einzige Kaffeesieder-Annonce. Der Advokat ist da des Einwands überhoben, daß man ein Ästhet sei, wenn man die Politik für unwichtig hält. Ist man denn ein Ästhet, wenn man sich statt für gute Luft und schöne Linie für das Heiratsangebot eines Budapester Spezialarztes interessiert? Es ist so furchtbar schwer, sich mit Leuten, die ihre fünf Sinne beisammen haben, zu verständigen. Lassen wirs. Dem letzten Tier, das jetzt den Ehrgeiz hat, in der Kärntnerstraße zwischen sieben und acht links zu gehen, versichere ich, daß ich es, das Tier, für tausendmal wichtiger halte als den Dr. Danew. Das wird ihm, dem Tier, doch genügen. Was ich zu tun habe, ist unwichtig. Es ist bloß der Versuch, Gott zu geben, was Gottes, und dem Tier, was des Tieres ist. Es ist bloß das Gestammel der Sehnsucht, den Geist zu trennen von den Dingen, die gebraucht werden. Und wenn ich darüber nachdenke, will ich Heine belangen. Und schon ist der Advokat da und sagt: Heine ist doch für die Journalisten, die später auf die Welt gekommen sind, nicht verantwortlich und das Lob der Cafétiers ist doch bezahlt! Der Advokat hat, da er nichts anderes hat, Recht. Er hat nicht nur dort recht, wo er recht hat, sondern immer. Er begreift nur die Verantwortung, und im Staat gibts größere Übel als jene. Aber das größte ist das kleine, für das niemand verantwortlich ist und jeder, der es nicht ist. Vor allem der, der früher gelebt hat und also schon tot ist. Ich kann dem lebendigen Advokaten keine andere Antwort auf die viertausend anonymen Briefe geben, die er mir schon geschrieben hat. Der Advokat ist nützlich und soll auch in der Welt einen Platz finden, die die andere wäre. Aber in der würde die Leistung des Advokaten oder des Cafétiers die ihr zukommende Wertung finden und nicht jene, die ihre Termini aus dem Reich des Genius holt. Denn wenn der Apparat des geistigen Lebens dem sozialen Zweck für Geld zur Verfügung steht, ist die Welt zu Ende. Der Advokat meint natürlich: wegen der Korruption meinen Sie? Nein, wegen der Erleichterung der Schamlosigkeit, die geistige Werte vergibt. Es ist gar kein Zweifel, daß die Beethovens verkürzt werden, wenn über die Kaffeesieder gesagt wird, daß sie Schöpfer sind, und sie werden umso gewisser verkürzt, wenn die Administration über den Wortschatz verfügt, den die Redaktion vom weiland Geiste gestohlen hat. Eine Gesellschaft ist dann auf dem Krepierstandpunkt, wenn sie zum Schmuck des Tatsachenlebens Einbrüche in kulturelles Gebiet begeht und duldet. Nirgendwo auf der Welt erlebt sich das Ende so anschaulich wie in Österreich. Hier kann sich die Entwicklung, deren Sendbote Heine war, täglich zweimal im Spiegel sehen. Die grauenvolle Abbindung der Phantasie durch die Ornamentierung geistiger Nachttöpfe hat hier schon zu jener vollständigen Verjauchung geführt, die der europäischen Kultur im Allgemeinen noch vorbehalten bleibt. Die Zeitung ruiniert alle Vorstellungskraft: unmittelbar, da sie, die Tatsache mit der Phantasie servierend, dem Empfänger die eigene Leistung erspart; mittelbar, indem sie ihn unempfänglich für die Kunst macht und diese reizlos für ihn, weil sie deren Oberflächenwerte abgenommen hat. Die Zeitung ist eine unlautere Konkurrenz, die beim Nachbarn Einbruch begeht und gegen die Kundschaft Gewalt anwendet. Wenn der alte journalistische Typus in den Krieg zog, so log er. Aber er begnügte sich damit, unwahre Tatsachen mitzuteilen. Der neue ist dazu unfähig und stiehlt Stimmungen. Natürlich verfaulen sie in seiner Hand sofort zur Phrase, deren Mißgeruch noch gegen den ersten Erzeuger einnimmt. Von Wippchen zu Zifferer sind wir arg heruntergekommen; die Lüge eines türkischen Siegs wäre schöner als die Poesie einer bulgarischen Landschaft. Hier sind wir ganz im Elend. Die Vorstellung ist pfutsch, es kann keinen Dichter mehr geben, weil schon der Reporter einer ist, und der Staat hat nicht mehr genug Phantasie, um die letzte Steuer zu erfinden, die wenigstens etwas wie ein Ausweg wäre und wie der ehrliche Versuch, aus dem geistigen Elend Kapital zu schlagen: die Phrasensteuer. Oder den Zehent an Nuancen. Tausendmal größer noch wäre der wirtschaftliche Gewinn als bei jener Ersparnis am Ornament, auf die es einer der seltenen Antiwiener, Adolf Loos, abgesehen hat, ein Rechtsgeher der Kultur, der das Parsifal-Motiv von den Automobilhupen separieren will und den der Idiotismus deshalb für einen Bejaher der Automobilhupen hält und nicht für den Befreier des Parsifal-Motivs. Was ist aber der faule Zauber um die surrogatbedürftige Leere des Zeitgenossen, der ohne Zierat nicht fahren und nicht essen kann, gegen die furchtbare Anwendung des Geistes auf die Dinge des journalistischen Hausgebrauchs, auf eine Nutzbarkeit oder Unentbehrlichkeit, die sich in der Meldung, daß geschossen wurde, daß einer angekommen ist und daß ein Cafétier sein Lokal vergrößert hat, nicht mehr ausleben kann ohne Stimmung, Plastik oder Bedeutung? Für Reklame muß auch in anderen publizistischen Regionen gezahlt werden und sie bekommt im Ausland sogar den Platz vor der Politik, wenn sie mehr einträgt. Eine Presse, die sich auf den Ehrgeiz beschränkt, eine Bedürfnisanstalt zu sein, wird dem Cafétier, der sein Geschäft empfehlen will, den Platz vor Herrn Iswolsky ausnahmsweise zur Verfügung stellen. Aber sie wird an ihn nicht den Vorrat von Geistigkeit wenden, den sie Künstlern vorenthält, nachdem sie ihn von Künstlern gestohlen hat. Nur eine infame Meinungspresse, wie wir sie haben, nur die Vertretung jenes schamlosen Anspruchs, daß ein meldender Bote Geist und eine Plakatsäule Gemüt habe, ist auch bereit, die Grenze zu verschieben. Die Korruption, die zwischen Textteil und Anonncenteil Schiebungen macht, ist völlig belanglos neben der Schweinerei, die in allen Rubriken dichtet. Es kommt nicht darauf an, wo, sondern wie ein Händler gelobt wird; es ist besser, wenn im Leitartikel eine Ware empfohlen wird, als wenn ein Jobber dort poetischen Unfug treibt, und es ist besser, wenn im Text die Ware beschrieben, als wenn im Anonncenteil der Händler besungen wird. Nicht im letzten Provinznest, wo schließlich der Kaffeesieder auch Bürgermeister sein kann und überhaupt der bedeutendste Mensch in der ganzen Gegend, nicht in Arad, nur in Wien, nur in einem Kulturzentrum, wo ein schlichtes Frühstück, bestehend aus Kaffee, Butter und Eiern, plötzlich auf den Namen »Prückl-Frühstück« hört und zehn Individualitäten auf einmal für eine die Meldung ausbrüllen: »Ein Prückl-Frühstück für den Herrn von Politzer!«, nur in Wien, wo eine Torte eines Tages als Zehetbauer-Creme-Torte erwacht, wo ein Speisenträger Napoleon heißt, aber ein Zahlkellner mit »Herr Zwirschina« angesprochen wird, nur in Wien, wo der Knödel ein Gedicht ist und die Musen Köchinnen, wo der Mensch darauf angewiesen ist, seinen Gefühlsbesitz an die Verrichtungen des äußeren Lebens zu wenden und aller Spielraum für Persönliches zwischen Essen und Verdauen gesucht und geboten wird, nur in Wien ist eine Annonce möglich, in der auf ein Kaffeehaus in der Porzellangasse nebst allem Stimmungszauber bereits die Erkenntnisse der benachbarten Psychoanalyse angewendet sind:

Eine Londoner Gesellschaft ohne Bibel ist gerade so undenkbar wie ein Wiener ohne eine Kartenpartie. Nicht allein das, es ist eine Haupteigenheit des Wieners, seine Lebensenergie gerade im Kaffeehause abzureagieren. Und dazu gehört Stimmung, mit einem Wort, ein echtes, elegantes »Wiener Café«.

Eine solche Stätte par excellence ist das »Café City«. Es ist unbestritten das vornehmste und mit allen der anspruchsvollen Zeit entsprechenden Forderungen eingerichtete Kaffeehaus im IX. Bezirk. — —

Die vornehme Intimität, insbesondere des Souterrainlokals, lädt unwiderstehlich zu Arrangements von Kegelabenden, Versammlungen und Unterhaltungen ein. Im Augenblick ist die vorzügliche Kegelbahn auf die praktischeste Art und Weise in einen veritablen, exquisiten Ballsaal umgewandelt. Die Wände sind mit Malereien von Künstlerhand geschmückt. Nicht vergessen erwähnt zu werden darf der reizend und diskret eingerichtete Ecksalon im ersten Stock, der für Damen den angenehmsten Aufenthalt bildet.

Von der Güte dieses Lokals des IX. Bezirks kann sich der Besucher überzeugen, wenn er am späten Nachmittag, am Abend durch seine Säle schreitet. Kunst und Großindustrie, das vornehmste Literatentum, Vertreter der Wiener Presse erblickt er in heiterer, zufriedener Laune, zu der den Hauptbeitrag auch die Bequemlichkeit des Cafés liefert, versammelt.

Diese berechtigten und würdigen Erfolge kommen nicht von selbst. Sie sind die Frucht des distinguierten Geschmackes und der warmen Liebenswürdigkeit des Herrn Laufer, eines der routiniertesten Cafétiers Wiens.

Es ist ja klar, daß ein Vertreter des vornehmsten Literatentums des IX. Bezirks das Gedicht verfaßt haben muß, und man könnte meinen, daß diese spezifische Verbindung von Farbe und Ton das Übel, das sich hier erbricht, bloß auf den IX. Bezirk reduziert erscheinen läßt. Aber das wäre Täuschung. Denn es ist ein weltumfassender Glaube, der hier im Jargon der psychologischen Bildung spricht, und vielleicht ist von ihm wirklich nur jene Londoner Gesellschaft ausgenommen, die eine furchtbare Erkenntnis hier auf die Bibel vertröstet. Jedes Wort, das in der Annonce geschrieben steht, ist wahr und tief. Was nützte es, einen Kordon um einen Stadtteil zu ziehen, der ein Weltteil ist? Nicht vergessen erwähnt zu werden darf hier etwas:

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