MAX HORKHEIMER - Materialismus und Moral - 1933
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
Immanuel Kant, Grundform des Kategorischen Imperativs 1785
Zeitschrift für Sozialforschung
Herausgegeben im Auftrag des INSTITUTS FÜR SOZIALFORSCHUNG von Max Horkheimer
Jahrgang II 1933 Heft 2, LIBRAIRIE FÉLIX ALCAN / PARIS, September 1933.
Max Horkheimer,
Professor der Sozialphilosophie.
Die Aufteilung auf Seiten wurde beibehalten, soweit es die Anmerkungen zuließen und aufgeteilte Sätze dahingehend korrigiert, ansonsten ganz weggelassen. [Sig.]
Materialismus und Moral.
Von
Max Horkheimer.
Dass die Menschen selbständig die Frage zu entscheiden versuchen, ob ihre Handlungen gut oder böse seien, ist offenbar eine späte geschichtliche Erscheinung. Während ein hoch entwickeltes europäisches Individuum nicht bloss wichtige Entschlüsse, sondern auch die meisten instinkthaften und zur Gewohnheit gewordenen Reaktionen, aus denen sich sein Leben zum grössten Teil zusammensetzt, vor das Licht des klaren Bewusstseins bringen und moralisch bewerten kann, erscheinen die menschlichen Handlungen als umso zwangsmässiger, je früheren geschichtlichen Bildungen ihre Subjekte angehören. Die Fähigkeit, triebhafte Reaktionen moralischer Kritik zu unterziehen und auf Grund individueller Bedenken zu verändern, konnte sich erst mit steigender Differenzierung der Gesellschaft herausbilden. Schon das Autoritätsprinzip des Mittelalters, von dessen Erschütterung die moralische Fragestellung der Neuzeit ihren Ausgang nimmt, ist der Ausdruck einer späten Phase dieses Prozesses. War bereits der ungebrochene religiöse Glaube, welcher der Herrschaft dieses Prinzips vorherging, eine reichlich komplizierte Vermittlung zwischen naivem Erlebnis und triebhafter Reaktion, so bezeichnet das mittelalterliche Kriterium der von der Kirche gutgeheissenen Tradition, dessen ausschliessliche Geltung freilich noch einen stark zwangshaften Charakter trug, bereits einen moralischen Konflikt. Wenn Augustin ¹) erklärt: „Ego vero evangelio non crederem nisi me catholicae ecclesiae commoveret auctoritas", so setzt diese Bekräftigung, wie Dilthey ²) erkannt hat, bereits den Zweifel im Glauben voraus. Der gesellschaftliche Lebensprozess der neueren Zeit hat nun die menschlichen Kräfte so stark gefördert, dass wenigstens die Mitglieder einzelner Schichten in den fortgeschrittensten Ländern in einem verhältnismässig weiten Bereich ihres Daseins nicht bloss dem Instinkt oder der Gewohnheit folgen, sondern unter mehreren vorgestellten Zielen selbständig zu wählen vermögen. Die Ausübung dieser Fähigkeit geschieht freilich in viel kleinerem Umfang, als gemeinhin angenommen wird.