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Learn to trust - in finsteren Zeiten

Aug 2019
05

In der Soziologie gilt Vertrauen als die Grundlage aller sozialen Beziehungen. Es ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft. Fehlt es daran, wachsen Verunsicherung, Angst und Wut. Viele Bürger haben das Gefühl, nichts mehr glauben zu können – nicht den Medien, nicht der Justiz oder dem gesamten staatlichen System.

https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-03/brexit-theresa-may-eu-austritt-abstimmung-misstrauen

Schauen wir auf das Internet, gilt das genannte Prinzip dort auch. Wenigstens war es in seinen Anfängen so und ist es auch heute noch in einigen wenigen Bereichen. Andere Bereiche sind inwischen weitgehend kommerzialisiert. In ihnen gilt das Prinzip: Verkaufsplattform. Sei es in Meinungen, Bildung, Nachrichten, Information, Bespaßung, Ablenkung. Vereinnahmung, Filterung und Blase.

Heute muss man sich ein Kondom überziehen um es überhaupt nutzen zu können. Sei es um den Verlust des Vertrauens entgegenzuwirken, sei es um sich gegenüber der Blasenbildung zu erwehren.

Sicher ist, wir werden korrumpiert!

Sei es das wir etwas bekommen, wie kleine Annehmlichkeiten, hundertfache (An-) Teilnahme, Gemeinschaften, Interessensverbände, vermeintliche Globalität, aber nicht bemerken mit was wir es eigentlich bezahlen. Diese komplette Aufmerksamskeitbelegung verspricht Vielfalt, erzeugt aber eher Verengung, Monotonie und Belanglosigkeit.

“Hach Kafka, Gibt es also noch Rettung? Rettung?, ja!, ...nur nicht für uns!:-)

Hier bedarf es also des Rufers! Des Rufers in finsteren Zeiten:

Bertolt Brecht

Übersetzungen: persisch (به آينده گان پس از ما), schwedisch (Till dem som föds sedan) u.v.a.

AN DIE NACHGEBORENEN

I

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

II

In die Städte kam ich zu der Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
Schlafen legt ich mich unter die Mörder
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit
Die Sprache verriet mich dem Schlächter
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

III

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir doch:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

Schritt für Schritt - oder das Tellerrandphänomen!

Mai 2019
14

“Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.”

Jean-Claude Juncker in: Die Brüsseler Republik, Der Spiegel, 27. Dezember 1999, festgehalten in wikiquote

 

Jean-Claude Juncker und sein Aufruf als Kantischer Imperativ... 2019 zur Europawahl

Nach diesem „Mea Culpa“ gibt Juncker auch noch eine Empfehlung für die Europawahl ab. „Bitte fragen Sie sich, was passieren würde, wenn alle so abstimmen wie Sie. Wie würde Europa aussehen, wenn alle rechtsextrem wählen?“ Es ist eine rhetorische Frage, man muss sie nicht beantworten.

8. 5. 2019, https://www.taz.de/Bilanz-ueber-Junckers-Rolle-in-der-EU/!5591833/

Ja! Doch!! Ich blicke mit Sorge auf die kommenden Zeiten.
Brüssel und die Europapolitik sind so fern, dass sich einfach zu wenig Menschen die Mühe machen ihr zu folgen, sie in ihr unmittelbares Sichtfeld zu zwingen. Deshalb ist es allerorten ein beliebter Volkssport, alles was aus Brüssel kommt als hanebüchen und nicht relevant zu betrachten. Nur so kann man erklären, dass es diese ominösen 20-30 Prozent gibt, die ohne zu zögern selbsterklärte Europafeinde ins Parlament wählen, die wir alle bezahlen und aushalten müssen. Solche mit dem verniedlicheren Begriff “Populisten” zu verharmlosen, ist naiv! Sie sind Demagogen und Feinde und gehören offensiv bekämpft. Europa ist doch so viel mehr als das beliebt zitierte “I want my money back”, dem Geben und Nehmen derjenigen Völker, die sich unter einer Idee zusammengefunden haben, dass die nationalstaatliche “Kleinstaaterei” einen idealen Überbau benötigt, alleine schon um der Hybris entgegenzuwirken, die einzelne Staaten und ihre Lenker von Zeit zu Zeit überfällt. Diese Idee ist das, was das “über den Tellerrand schauen” idealisiert und gleichzeitig (mühsam) realisiert. Wir lernen, dass die Nachbarn die gleichen oder ähnliche Probleme haben, wir lernen, dass Wasser und Luft keine Grenzen kennen, dass politische und wirtschaftliche Entscheidungen unmittelbare Auswirkungen haben, die an Ländergrenzen nicht halt machen. Wir müsssen uns zwingen wieder mehr auf das Ideelle dieser Idee zu schauen, nicht auf den Selbstbedienungsladen Europa, vor dem man sich zu Recht manchmal angewidert zurückziehen möchte. Es gibt zu Recht so viel zu kritisieren an Europa. Diesem Tanker zuzuschauen, der quasi ohne erkennbare Reaktion auf das vermeintlich hektische Umsteuern auf der Brücke reagiert. Die einfachste Reaktion des Bürgers ist, sich zurückzuziehen und sein Heil in verwaschenen Ansichten alter Zeiten zu suchen. Hier setzen die Demagogen an. Sie nehmen dieses obskure Gefühl auf und verwandeln es in einfache simple Ideen und “hast du nicht gesehen” sind sie (- die Wähler -) gefangen in Ideologien, die aus der politischen Mottenkiste stammen. Da sie sich und ihre Gedanken nicht selbst bestimmen, verstummen sie zum Fußvolk dieser Demagogen und Feinde einer überpersönlichen Idee.
Die anderen sind doch nicht besser; genießen sie die Vorzüge des Europa im Konkreten doch als inzwischen so selbstverständlich, dass sie, wie der sprichwörtliche Frosch im Kochtopf, das immer wärmer werdende Wasser nicht bemerken und keinerlei geeignete Reaktion zeigen ihrem zwingenden Dilemma zu entkommen. Stattdessen neigt man dazu, zu verharmlosen, diejenigen zu beschimpfen, die einen explizit aus dem Lehnstuhl in die konkrete Haltung zwingen wollen.

Das ist doch das was so kritisierbar am Politikbetrieb ist. Alles wird so lang gewendet und besprochen, bis man an dem Punkte ist sich möglichst wenig zu bewegen, denn es könnte ja das innere Gefüge, die Wirtschaft beschädigen. An ihr hängt, wie der Tropf am Hahn, das Wohl und Wehe, die Finanzierung, die eigene politische Zukunft, die Wiederwahl. Jahre vergehen, bis aus den kleinen Reaktionen richtungsbestimmende Fahrtänderungen werden. Man rettet die Autoindustrie, aber vergißt das Weltklima. Alle wollen, aber tun es nicht wirklich. Kinder, in ihrer zu Recht versimplifizierenden reaktionären Ansicht, erkennen den Unterschied zwischen konsequenten Handeln und verwaschenener “sowohl-als-auch” Haltung. Es ist eine Frage der Lobby; denn Diese ist zu stark in den Händen von Interessen! Diese (eher kurzfristigen) Interessen verhindern alles was die unmittelbare und konsequente Veränderung bewirkt. Aus großen Ideen werden immer kleinere Teilstücke gehackt, die am Status quo nichts wirklich verändern, bzw. so langsam, dass die Idee dabei oft auf der Strecke bleibt. Politik ist der Ausgleich von Interessen. So sieht sie sich selber. An diesen Lobbyverbänden scheitert aber die Idee per se, denn sie, die hochbezahlten Lobbyisten, bearbeiten die Entscheidungsträger in künstlichen Blasen, so lange, bis diese ihre Blasen als ihre unmittelbare Existenz- und Erfahrungswelt, aus der sie dann ihre “eigenen” Entscheidungen fällen, ansehen. Sie sind nicht böse an sich, aber sie bewirken es mitunter! Dabei können sie das gar nicht selbst begreifen, denn dazu müsste man ja über den eigenen Tellerrand schauen.

Aus diesem Grunde soll uns heute ein Text begleiten, der das “Über den Tellerrand schauen” schon zu einer Zeit betrachtete, als Deutschland sich anschickte, mit unfassbarer Glut dasjenige Höllenfeuer neu zu entfachen, das schon mit dem ersten Weltkrieg Europa ein Ende der alten Ordnung, der alten Ideen aufzeigte. 1933 war das Jahr, in dem das zarte Pflänzchen einer ersten deutschen Demokratie überrannt wurde von den Demagogen, die die Schwäche der Politiker, die Streitereien unter den Parteien, die Schwächen der sozialen Ordnung, die Unbekümmertheit der Feiernden ausnutzte und innert kürzester Zeit keinen Stein mehr auf dem anderen ließen. Wozu Völkerbund, die alte Schwatzbude, wenn der Wille des Einzelnen ganze Staaten in die Knie und die Welt in den Abgrund zwingen kann.Wir wollen selbst bestimmen.” Alles Parolen, die einem auch heute mehr als bekannt vorkommen...

Wohlan denn. Wer noch des Lesens mächtig, sollte sich beherzt diesen wunderbaren Text von einer erhöhten Warte zu Gemüte führen. Denn wir alle stehen doch auf den Schultern von Riesen; wir müssen sie nur verstehend lesen!

MAX HORKHEIMER - Materialismus und Moral - 1933

Vielleicht hilft es, die Zeit nicht verstreichen zu lassen und eine Wahl zu treffen, eine gute WAHL!

Pferd und Reiter - Ein Ausflug in die Vergangenheit

Mär 2019
10

10. Oktober 1994
Die Fremde III.
Born to survive in Africa and everywhere...

Schwarzer Tod im Lande der Geduldigen. Sehnsuchtsland - Märchenland - Land der Kasten und Land der Religionen. Was ist nur aus dir geworden. Elend herrscht. Millionen leben im Dreck, hausen auf Müllbergen, verbringen ihr Leben zwischen Ratten und heiligen Kühen. Keiner aber wagt aufzustehen und “Schluß!!!” zu rufen. Bereitschaft zum Leiden. Ist es schon Stumpfsinn, Apathie? oder gerät hier nur das westliches Denken wieder einmal an die Grenzen seiner Schublade? Riesiges Land - Kontinent in sich - Sammelbecken und Aufbewahrungsort strebsamer und arbeitsamer Menschen - Millionen von Menschen, die still ihr Leid ertragen, still sich ins Joch ihrer uralten Traditionen und Vorstellungen zu fügen scheinen. Was ist das nur für ein Kontinent, der sich vor Millionen von Jahren auf den Weg machte vom Indischen Ozean nach Nordosten - langsam dahindriftend - bis er schließlich mit Macht unaufhaltsam auf die asiatische Landmasse aufstieß - Gebirge voller Wunder und prächtiger Größe auftürmte und die Menschen im Norden und Süden gleichsam in sich selbst einschloß. Menschenreiche die sich mit ungeheurer Schnelligkeit vermehrten, deren Kinderreichtum Glanz und Elend, Sicherheit der Großfamilie und ängstliches Erschaudern der westlichen Welt vor dieser Explosion des Bevölkerungswachstums förderte. Wie alle großen Dinge dieser Welt ist auch dieser Mikrokosmos Indiens gleichsam ungeheuer kompliziert strukturiert, aber ebenso auch lapidar einfach und erkennbar. Blickt man aus der Fremde, aus der Ferne - so kann einem beides begegnen - steht man unmittelbar darinnen, so wird auf der einen Seite die verwirrende Vielfalt offenbar, auf der anderen Seite aber auch der Langmut und der einfache Umgang der Menschen mit diesen Strukturen. Wenige nur fragen, sind neugierig diese Strukturen zu erkennen und zu durchstoßen. Denn dazu bedarf es eines bewußten analytischen Vorgehens, dessen westlicher Ansatz nicht so ohne weiteres in eine Kultur übernommen werden kann, die schon seit Jahrtausenden genau den umgekehrten Weg geistiger Besinnung und Erforschung nimmt. Lange hört man nichts aus diesem Lande der Ewigen, dann plötzlich steht es im Mittelpunkt des Weltinteresses. Nicht aber positive oder erstaunliche Geschichten sind es, die dieses Aufmerken auf sich lenken. Es ist die Angst vor diesem Menschengewirr, dessen Antrieb, Wurzeln und Zukunft man im Westen nicht versteht. Der Schwarze Tod ist wieder aufgetaucht. Die Menschen dicht an dicht streben in Panik in alle Himmelsrichtungen auseinander. Die Beulen- und die Lungenpest raffen viele Leute dahin. Es kommt zu einem Loch in der Versorgung der Bevölkerung mit den entsprechenden Medikamenten. Voller Angst decken sich die Leute mit Antibiotika ein, so daß mancher Apotheker der wartenden Menschenschlange nur noch achselzuckend gegenübertreten kann. Andere horten diese lebensrettende Arznei, bis sich die Preise überschlagen und fetter Reibach gemacht werden kann. Im Bewußtsein eines Europäers ist diese Krankheit nur noch in der Geschichte. Das Mittelalter ist voll davon. Doch das davon keine Rede sein kann, beweisen die Annalen der W.H.O., die penibel die auftretenden Fälle dieser Seuche sammelt. Im Bewußtsein der Menschen ist sie dennoch nicht, obwohl diese Sammlung durchaus nicht nur aus Einzelfällen besteht und schon gar nicht nur in Dritteweltländern zu finden ist. Zwei Begleiter des Menschen stecken hinter dieser unausrottbaren Krankheit. Zum einen ist es der Mensch selbst, der Vieles ertragen kann sobald er sich daran gewöhnt. Es ist die Reinlichkeit, die nur da Fuß fassen kann, wo der Mensch nicht mehr in dem Zwange des eigenen Überlebens behaftet ist, in Gesellschaften, in denen das Existenzielle fehlt. Doch das sind nur 20% der Weltbevölkerung. Sie erheben sich aus dem Kampf mit solchen Dingen und sind stolz darauf. Aber sie haben viel gefährlichere Seuchen entwickelt, die nicht nur sie selbst, sondern die ganze Welt bedrohen und gefährden. Dinge, die in den Statistiken der Welt- Gesundheits-Organisation gar nicht auftauchen, weil es geistige Krankheiten - Denkgewohnheiten und Weltanschauungen sind. Das zweite Übel sind die ewigen Begleiter der Menschen - die Ratten. Überlebensfähig wie kein zweites Lebendiges auf dieser Erde, klug und anpassungsfähig, sind sie der Untergrund auf dem die Menschen leben. Ihnen genügt die Nische, die die Menschen ihnen in ihren Handlungsgewohnheiten schaffen. Schmutz und Unrat wird unter den Teppich gekehrt und vergessen. Oben sieht es rein und sauber aus und damit ist das Auge und Denken des Menschen befriedigt. Die Kraft erlahmt und wendet sich anderen Aufgaben zu. Die Ratten blinzeln, schnuppern und freuen sich und unerkannt erobern sie das Schattenreich, das die Zweibeiner ihnen lassen. Auch die Ratten haben ihre Begleiter. Es sind jene Flöhe, die die Überträger dieser fürchterlichen Geißel des Menschen sind. Leben ihre Wirte gut, so kann auch dem Floh nichts passieren. Ihn kümmert nicht, was sein Wirken anrichtet. Pferd und Reiter sind gut gerüstet. Das bißchen DDT das verstreut wird kann ihnen nichts anhaben und die Menschen müssen schon bald, ob der Gefährlichkeit dieses Pulvers, weitere Ausbringung desselben einstellen. Schon bald wendet sich die Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen zu und das ewig gleiche Spiel des Vergessens beginnt erneut. In diesem Kosmos des Lebens, diesem verwirrendem Gedränge aus Menschenleibern, heiligen Tieren und Heiligen, aus tausenden von Göttern, die unnachgiebig in dieses Gefüge eingreifen, leben sie - die Gotteskinder. Die Ratten vom Schrein des Shah Daula in Gujrat, Pakistan. Mäusen und Ratten nicht unähnlich, in ihrer menschlichen Gestalt enstellt, sind sie ein eigenartiges und bemerkenswertes Phänomen des indischen Subkontinentes. Verflochten in dieses unaussprechliche Durcheinander von Göttern, Heiligen und Menschen, leben sie am Rande und gleichsam mittendrin. Am Schrein von Shah Daula würde der gefesselte, verwirrte westliche Betrachter wahrscheinlich vorbeiziehen, ohne auch nur zu ahnen wo er sich hier befindet, oder was sich hinter dem geschwungenen Tor verbirgt. In diesem Lande, in dem die Fruchtbarkeit der Frau ihre Ehe bestimmt, nimmt dieser Schrein, wenigstens in seinem kleinen Umkreis eine bedeutende Stellung ein. Unfruchtbarkeit ist ein häufiger Scheidungsgrund und gleichzeitig eine soziale Schwächung der Frau in ihrem Umkreis. Alle reden mit, bestimmen untereinander das Leben, lassen individuelle Entscheidungen nur begrenzt zu, hemmen bewußt und unbewußt Herzensentscheidungen. So ziehen noch heute die Frauen mit ihrer Unfruchtbarkeit gezwungenermaßen zum Schrein von Shah Daula und bitten zu den Göttern und ihren Heiligen. Menschlicher Glaube vollzieht die Wunder der Verwandlung von Unfruchtbarkeit in Fruchtbarkeit, von Mißachtung in Anerkennung der Hoffenden und Flehenden. Aber erhören die Götter das Bitten, so fordern sie schrecklichen Lohn - wie weiland Rumpelstilzchen von der Königin - das erste Kind! Das sind die Mäuse vom Schrein des Shah Daula. Es sind jene entstellten Kinder mit kleinen schmalen Köpfen (prenatale Mikrozephalie), die bettelnderweise mit ihren heiligen Männern vom Schrein oder auch an Familien verpachtet umherziehen und den Menschen ihren Tribut abfordern, der jenem Geber eine Ablaß seiner Verfehlungen, einen Pluspunkt im nachtodlichem Leben gewährt. Das Karma als Motor im indischen Leben erschafft diese uneinsehbare Struktur des Bestimmtseins vom Geistigen im irdischen Leben. »Gotteskinder leben nie an einem Ort, sie laufen immer weg...«. Mit diesen lakonischen Worten, ergeben in dieses Gefüge, ergibt sich die Mutter einer »Maus« in das Schicksal eines weggegebenen Kindes. Sie wollen es nicht weggeben, müssen sich aber dem Willen ihres Mannes, der Verwandten und Bekannten beugen, müssen ihr Leid ertragen, den Schnitt vergessen. Schwer ist es sich auf die Suche zu machen nach den verlorenen Kindern - den Mäusen, wie sie überall genannt werden. Doch fest ist dieses Gefüge, das auch handfeste ökonomische Gründe hat und manche Suche bleibt erfolglos - »Was man nicht findet, muß man vergessen...« - scheint dann der einzig rettende Gedanke zu sein. Es ist eine merkwürdige Fügung, die die Ratten als festen, untergründigen Bestandteil des menschlichen Lebens mit diesen armen Geschöpfen vom Schrein des Shah Daula verbindet. Sie sind Randexistenzen, nicht wegzudenken, eingefügt in das Leben, in das Verbundensein mit den Göttern und ihren Mittlern. Atomtechnik, Raketen und Satelliten bringt dieses Land heutzutage hervor, aber im Leben der Menschen bestimmen weiter die uralten Vorstellungen und Rituale das Alltägliche. Bewundernswert gelassen wird dieser Riß zwischen Zustand und Möglichkeit ertragen, leben Hunderttausende auf engstem Raum miteinander. Hindutempel, moslemische Gebetshäuser, Christenkapellen, buddhistische Schreine, persische Paria und alle Formen anderer geistiger Hinwendung. Mitunter kommt es zu fürchterlichen Aufständen und Feindschaften - nicht gegen die sozialen und alltäglichen Zustände mit und in denen die Menschen leben - nein - sondern gegen Religionen und zwischen ihren aufgestachelten, stets in Massen auftretenden Fundamentalisten. Blut fließt, Vertreibungen setzen ein, das Militär muß die Ordnung wieder herstellen und alles kommt nach einiger Zeit wieder zur Ruhe - setzt sich wie die Schwebeteilchen im Wasser - immer auf den nächsten Stein des Anstoßes wartend. Die Religionen haben in diesem Mikrokosmos ein unentwirrbares Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten, spiritueller und lebenspraktischer Besonderheiten geschaffen - die uns Staunen machen...