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Three Billboards for K. - Blatt für Blatt

Mär 2021
20

J. nahm das Lesezeichen aus dem Buch, rückte das Füllhorn gerade, öffnete das Fenster ... und sprang.

Noch im Flug überlegte sie was sie wohl vergessen hätte, doch nicht einmal diesen Gedanken konnte sie beenden. Ihre Blätter lagen noch immer frisch geweißt auf dem Tisch. Wie die gesamte Woche schon. Ihre Gedanken flogen, aber setzten sich nicht. Nur Nachts, wenn sie wachlag und die Stunden und Wochen und Jahre ihres Lebens an ihr vorüberzogen, nahmen sie Bezug und oft hatte sie im Halbtraume darüber nachgesonnen, dass es doch schön wäre, wenn ihr jetzt ein Nachtelf geschwind die Feder führen und alles Gedachte und Erträumte zu Papier brächte. Dann könnte sie am Morgen nachlesen was in ihrem Leben an Scheidewegen und Wendungen zu all den Fährnissen geführt hatte, denen sie ansonsten am Tage nur recht wolkig gewahr wurde.

Draußen roch es nach Frühling. Ein wenig nur. Doch in all dem bleienden Grau, gab es diese feine Note die den nahen Frühling ankündigte. Narziß und Goldmund, Primel und Vergißmeinnicht. Hier ein Schneeglöcken, da ein Feld voller Krokusse, mit ihren goldenen Stempeln.

 

✂—✂—✂ WER ✂—✂—✂

 

H. schüttelte sein welkes Haupt.

Überall gingen, standen oder saßen sie. Verträumte Einzeller oder Pärchen. Als jene, die grauenvoll gelangweilt von der umgebenden Welt, auf die spiegelnde Fläche starrten, die ihnen den Weg zu sagen schien, und doch hätte ein selbstbewußt erhobener Blick gereicht, sie selbstbestimmt und weit genug in die Ferne zu tragen. Andere hielten mit solcher Inbrunst ihren Kaffeebecher als müssten sie sie spazierenführen, mit ihnen Gassi laufen; Stolz beseelt zur Gruppe der städternden Jung-Yuppies zu gehören. Die Sitzenden saßen nebeneinander, wortlos schweigend. Beide vertieft in ihre Welt; nichts ausdrückend oder teilend als trauriger Langeweile.

Dann und wann sah H. ein ältliches Ehepaar, mit geweiteten Augen, ähnlich grauenvoll ihrer Umgebung gewahr geworden.

So traf sich ihr Blick...

 

✂—✂—✂ WIR ✂—✂—✂

 

Die Schlange starrte. Unabwendbar gefangen in ihrem Bann. Blasen blähten kleine Universen. Jedes in sich gerichtet von Saurons flammender Aufmerksamkeit. Cancel Culture und Political Correctness, durchschäumt von wütend gerichteten Hinrichtungen, sollte etwas von seinem Weg abkommen. Sie alle stritten ab sich daran zu beteiligen. Und doch war nur davon zu lesen! Je mehr wir uns auf das Detail konzentrierten, desto größer war der Effekt. Je mehr wir zu wissen glaubten, desto flacher wurde ihr Gewinn. Die vermeintliche Tiefe verlor sich im horizontalen Nirgend. Die nicht besetzte Vertikale aber produzierte den Hass. Und dieser gab den Blähungen ihr Profil, die emotionale Emulsion. Den Trieb immer weiter hinein zu steuern, gefangen von sich selbst. Selbstüberschätzung, Hybris, Ignoranz, verkocht zu einem gärigen Brei. Gesteuert? Wohl kaum. Benutzt? Durchaus!

R. sah es kommen ... und S. sah es gehen. Keiner fand die Zeit aufzublicken!

 

✂—✂—✂ WAREN ✂—✂—✂

 

W. war von uns gegangen...

 

„Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“ (Roger Willemsen)

Von Helden und Maulhelden, Intelligenzen und anderen Heimsuchungen

Mär 2020
28

“Wollen wir in einer Welt leben, in der jeder jeden bescheißt?” Nein, das wollen wir nicht, tun wir aber! Jedenfalls in einer Welt in der es eine ganze Schicht gibt die sich eben genau solches herausnehmen. Pfui Deibel! Gott sei Dank gibt es Menschen wie diesen Richter aus Bonn, die solches Verhalten eben auch so benennen: “Wenn sie sich in einen Kreis von Ganoven begeben, können Sie doch nicht sagen, um mich herum waren auch nur Ganoven, die haben das alle gemacht”. Schlage ich die Zeitung auf, so steht da selten Nachdenkliches, echt Hinterfragtes. Alles ist auf die schnelle Nummer aus. Da werden Leute schnell als Helden bezeichnet, die einfach nur ihre Arbeit machen, zu der sie gewählt sind, nur weil es andere gibt, deren “helden” Attribut am hinteren Ende des Objektes zu finden ist und darüber immer wieder keinen Zweifel aufkommen lassen. Die Welt ist im shutup-Modus. Nur diejenigen die einen Shutup wirklich nötig hätten, halten es einfach nicht, ..ihr Objekt.

In die Stille des heruntergefahrenen Tages raunt der alte Dylan “The day they stole America”. Wirklich erst als Kennedy ermordet wurde? Maybe it all began with “Cortez the Killer”! Die Prise Wahnsinn die genügend Abgründe auftat, um sich immer wieder erneut in sie zu stürzen. Vom Anbeginn an werden Geschichten erzählt. Sie sind die Schneisen im Chaos. Die Aborigines folgten ihren Songlines, Pfaden aus Erzählungen entlang der spirituellen, natürlichen und moralischen Ordnung des Kosmos. Es gibt sie also, die Erzählungen die hinüberreichen und dem Menschen Richtschnüre entlang ihres Weges geben. Die neueren Zeiten machten daraus Narrative; ein furchbares Wort, so voll von Lügen und gefährlichen Verkleisterungen und Abwegen. Abgekoppelt von der moralischen Ordnung des Kosmos, nur noch dumpfe Zweckerzählungen, die Interessen dienen, ..menschlichen Interessen!

Demjenigen der mit dem Glauben an das Gute, Wahre und Schöne aufwächst, erwacht die Welt der Narrative immer mehr zu einem bedrückenden Albtraum und ihre Protagonisten gleich mit. Es ist so schwer dagegen wach zu bleiben, sie immer erst einmal als das zu lesen was sie sind, elende Nachtmahren die den hellen Geist verdunkeln. Doch sind Erzählungen wichtig; wir alle kennen sie und leben nach und mit ihnen. Alles sind nur Erzählungen - aber wenn sie gut sind, heben sich soweit gegeneinander auf, dass eine Entwicklung über die Zeit stattfindet. Eine Entwicklung ins Helle!

Und doch ist mir die Enttäuschung auf die Stirn geschrieben, in Furchen der Erfahrung. Der Glaube bröselt! Das neueste dieser Narr.ative: Künstliche Intelligenz wirds schon richten. Glaube daran, Mensch! Folge den Weisheiten der Algorithmen. Sie können nicht irren, BIG DATA sei Dank! Hah!

Mo.ment! Lassen wir dem “Yer Blues” Schmerz kurz seinen Lauf - « John! » - Two, three...

[Chorus]
Yes, I’m lonely
Want to die
Yes, I’m lonely
Want to die
If I ain’t dead already, hoo
Girl, you know the reason why

[Verse 1]
In the morning
Want to die
In the evening
Want to die
If I ain’t dead already, hoo
Girl, you know the reason why

My mother was of the sky
My father was of the earth
But I am of the universe
And you know what it’s worth

[Chorus]
I’m lonely
Want to die
If I ain’t dead already, hoo
Girl, you know the reason why

[Verse 2]
The eagle picks my eye
The worm he licks my bones
I feel so suicidal
Just like Dylan’s Mr. Jones

[Chorus]
Lonely
Want to die
If I ain’t dead already, woo
Girl, you know the reason why

[Verse 3]
Black cloud crossed my mind
Blue mist round my soul
Feel so suicidal
Even hate my rock and roll

[Chorus]
Want to die
Yeah, want to die
If I ain’t dead already, woo
Girl, you know the reason why

Girl, did ya hear me..?? So schallts hinaus in die Nacht...

Die Rettung meiner inneren Jugend aber war immer:

Almost Cut My Hair
It happened just the other day
It’s getting’ kinda long
I coulda said it wasn’t in my way
But I didn’t and I wonder why
I feel like letting my freak flag fly
Yes, I feel like I owe it to someone

Must be because I had a flu for Christmas
And I’m not feeling up to par
It increases my paranoia
Like looking at my mirror and seeing a police car
But I’m not giving in an inch to fear
’Cause I promised myself this year
I feel like I owe it to someone

When I finally get myself together
I’m going to get down in that sunny southern weather
And I’ll find a place inside to laugh
Separate the wheat from the chaff
I feel like I owe it
To someone, yeah

Mögen wir also alle unseren FLUE überwinden, denen Gedenken die es nicht schafften und zu den Songs unserer Jugend zurückkehren! I owe it to someone, yeah!

MAX HORKHEIMER - Materialismus und Moral - 1933

Mai 2019
14

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Immanuel Kant, Grundform des Kategorischen Imperativs 1785

 

Zeitschrift für Sozialforschung

Herausgegeben im Auftrag des INSTITUTS FÜR SOZIALFORSCHUNG von Max Horkheimer

Jahrgang II 1933 Heft 2, LIBRAIRIE FÉLIX ALCAN / PARIS, September 1933.

Max Horkheimer,
Professor der Sozialphilosophie.

Die Aufteilung auf Seiten wurde beibehalten, soweit es die Anmerkungen zuließen und aufgeteilte Sätze dahingehend korrigiert, ansonsten ganz weggelassen. [Sig.]

 

Materialismus und Moral.

Von
Max Horkheimer.

Dass die Menschen selbständig die Frage zu entscheiden versuchen, ob ihre Handlungen gut oder böse seien, ist offenbar eine späte geschichtliche Erscheinung. Während ein hoch entwickeltes europäisches Individuum nicht bloss wichtige Entschlüsse, sondern auch die meisten instinkthaften und zur Gewohnheit gewordenen Reaktionen, aus denen sich sein Leben zum grössten Teil zusammensetzt, vor das Licht des klaren Bewusstseins bringen und moralisch bewerten kann, erscheinen die menschlichen Handlungen als umso zwangsmässiger, je früheren geschichtlichen Bildungen ihre Subjekte angehören. Die Fähigkeit, triebhafte Reaktionen moralischer Kritik zu unterziehen und auf Grund individueller Bedenken zu verändern, konnte sich erst mit steigender Differenzierung der Gesellschaft herausbilden. Schon das Autoritätsprinzip des Mittelalters, von dessen Erschütterung die moralische Fragestellung der Neuzeit ihren Ausgang nimmt, ist der Ausdruck einer späten Phase dieses Prozesses. War bereits der ungebrochene religiöse Glaube, welcher der Herrschaft dieses Prinzips vorherging, eine reichlich komplizierte Vermittlung zwischen naivem Erlebnis und triebhafter Reaktion, so bezeichnet das mittelalterliche Kriterium der von der Kirche gutgeheissenen Tradition, dessen ausschliessliche Geltung freilich noch einen stark zwangshaften Charakter trug, bereits einen moralischen Konflikt. Wenn Augustin ¹) erklärt: „Ego vero evangelio non crederem nisi me catholicae ecclesiae commoveret auctoritas", so setzt diese Bekräftigung, wie Dilthey ²) erkannt hat, bereits den Zweifel im Glauben voraus. Der gesellschaftliche Lebensprozess der neueren Zeit hat nun die menschlichen Kräfte so stark gefördert, dass wenigstens die Mitglieder einzelner Schichten in den fortgeschrittensten Ländern in einem verhältnismässig weiten Bereich ihres Daseins nicht bloss dem Instinkt oder der Gewohnheit folgen, sondern unter mehreren vorgestellten Zielen selbständig zu wählen vermögen. Die Ausübung dieser Fähigkeit geschieht freilich in viel kleinerem Umfang, als gemeinhin angenommen wird.

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