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Frost und Hölle! Von Schildkröten und ihren Bedürfnissen

Mär 2023
10

Leicht skeptisch, etwas trotzig, aber gleichmütig, mit gehobenen Brauen, blickt sie in die Kamera.
Das Leben hat sich in diesem Gesicht verarbeitet; Zäh wie Leder, einer alten Schildkröte gleich.
Ihr Haupt umrundet ein Geflecht aus leuchtendem Krepp. Die Augen, - fern, und wässrig müde. Blickten sie doch allzu lang schon in die Welt und sahen wilde Zeiten rollen; - kommend, - gehend.
Sie haben ausgesehen; ihren Dienst verrichtet!

128 Jahre sind eine lange Zeit. Johanna Mazibuko lebte in der britischen Kolonialzeit, sah die selbstverwalteten Anfänge der Afrikanischen Union, überlebte die schreckliche Zeit der Apartheit und feierte Nelson Mandela, der ein ganzes Volk glücklich in einen afrikanischen Traum zur Befreiung führte. Die Buren wären, ob der begangenen Greuel und hinterlassenen Wut, sicher zu Tausenden abgeschlachtet worden, hätte Mandela nicht seine schützende Hand erhoben und einen schmerzvollen Aufarbeitungs- und Heilungsprozess in Gang gesetzt.
Sie hat auch diesen überlebt und begriff, dass große Ideen und große Führer, wie es Mandela sicher gewesen ist, ihre Ausstrahlung verlieren und verblassen, sobald die Macht an die Kleptomanen und Egomanen übergeht, im ewigen Spiel um Geld und Macht.

Was wollen sie? Anerkennung! Und bekommen sie diese nicht über Menschlichkeit und Verständnis, über ein sorgsam angeeignetes Charisma und geistiger Strenge gegenüber sich Selbst, kehrt sich mancher schnell in das genaue Gegenteil und verfolgt Andersdenkende mit brutalster Härte. Das Gesetz des Dschungels, der Savanne, unserer Ahnen; Sieger ist wer überlebt!
Moral und Anstand sind für Schwächlinge! Wer zu essen hat, hat Recht!

Rede ich von Afrikanern, die bis heute, in plötzlichen Anfällen von archaischer Wut, immer noch nicht gelernt haben sich nicht gegenseitig umzubringen, die Macheten zu schwingen, kleine Kinder zu brutalsten Mördern abzurichten? Nicht unbedingt! Denn dieses Gen steckt in uns allen! Wohnen sie denn in den heißen Gegenden des globalen Südens, oder in den sibirisch kalten Nordländern; im Westen, wie im Osten. Einerlei!
Mit dem Tauen des Permafrostes kommen diese Gewohnheiten und Gewissheiten wieder zum Vorschein. Eiswürmer des Grauens!

Mächtige Narrative einer wagen Idee kommen sich ins Gehege. Freiheit gegen Bevormundung! Beide haben Recht, in ihrer eigenen Weise. Weder sind die Menschen fähig in völliger Freiheit zu leben und zu handeln, denn es macht sie zu Egoisten. Das Gesetz der alten Gene. Noch aber sind sie nur fremdgesteuerte, willfährige Diener, die in beschränkter Amnesie hordengleich jedem Schwenk ihrer geistigen Ordnung und Kaisers folgen. Sie müssen sich aber darüber hinaus entwickeln. Konsum oder Zwang werden nicht lange als Ersatz taugen. Sie sind zu billig und taugen nicht für den inneren Fortschritt!
Regeln und Ordnung brauchen beide. Manipuliert werden beide Systeme, so dass sie am Ende nur noch Hüllen sind, in denen die Puppenspieler ihre Machtspiele spielen.

Ich rede nicht von den wenigen Ausnahmen. Den Menschen die sich entwickeln. Die gelernt haben all die Teile der vorherigen Erfahrungen und Konsequenzen zu einem Teil ihres künftigen Handelns und ihrer Werte zu machen. Die Freiheit sich zurückzunehmen für die Freiheit des Anderen. Ein steiniger Weg und auch schwieriger Anspruch in der Entwicklung des Menschen. Und nur wenn ein genügend großer Teil diesem Anspruch genügt, ist die Menschheit bereit die nächste Stufe ihrer Evolution zu nehmen.

Wir sind an einem Kipppunkt. Mit ihrer Maßlosigkeit und Ignoranz hat es die Menschheit geschafft die alten Geister wiederzuerwecken.
Das Eis schmilzt. Säbelzahntiger und Scharen von Schädlingen kriechen empor, bereit sich in die giftige Schlacht zu werfen. Die Jahrhunderte der Aufklärung und des Humanismus werden in ihren eigenen Staub zurückgeworfen. Die Saat scheint nicht angegangen. Haben zu viele der Gärtner ihren Job gekündigt, oder gar ob des plötzlichen Wassermangels resigniert? Die jungen Pflanzen vergilben, verdorren. Doch gerade dort brauchen wir am allernötigsten Hilfe um die wiedererweckten Scharen der Vergangenheit in den Griff zu bekommen. Sonst kann der wildgewordene Säbelzahntiger gleich seine irren Atomdrohungen wahrmachen und die Welt in den totalen Abgrund zurückbomben. Die Brasiliens, Indiens und Chinas dieser Welt werden sich schön wundern, dass sie doch auf der selben Erde leben (wollten)!
Ich bin nicht Willens diesen Irren unwidersprochen freie Bahn zu geben, nur damit ich meine Ruhe habe!

Vielleicht sind die großen Länder und Systeme nicht fähig zur Erneuerung. Erneuerung braucht engagierte Menschen. Menschen die dort anfangen wo sie selber sind oder sich einbringen und kleine selbstverwaltete Gemeinschaften bzw Gemeinschaftsstrukturen neu denken und erfinden.

Bei all den schlechten Nachrichten die immer gehäufter auf einen niederprasseln und einem jeglichen Optimismus rigoros vertreiben, sind es diese kleinen Nachrichten einzelner Menschen oder lokaler Gruppen, die einfach anfangen es besser zu machen. Sei es an den Küsten rund um den Indischen Ozean mit der Wiedergewinnung von Nachhaltigkeit durch Schonung der Fischbestände und Aufforstung der weggeholzen Mangroven, alles initiert von einer kleinen Gruppe sehr engagierter Menschen mit einer klaren einfachen Idee, Eden Reforestation Projects, die die Küstenmenschen befähigt ihre direkte Umwelt nachhaltig und damit zukunftssicher zu bewirtschaften, oder in der Sahelzone mit der schlichten Idee der “unterirdischen Wälder”, die zum Leben wieder erweckt werden können, angeleitet von einem Australier, Tony Rinaudo, mit einer ebenso klaren und einfachen Idee, der Befähigung. Eines Auswegs!
Kein Geschwafel, kein Gerede. Keine langatmigen Konferenzen, keine kurzatmigen Gelder aus Entwicklungstöpfen. Einfach klares, ideengesteuertes Handeln, im Einklang mit der Natur.
Bravourös! Ich ziehe den Hut tief und verbeuge mich vor Scham!

Wir aber leben in Systemen die bis zur Erstarrung in Gesetzmäßigkeiten stecken, die keinerlei Bewegung mehr zulässt. Alles ist geregelt, zerregelt!
Zu viele Köche verderben den Brei. Schaue ich auf das Schulsystem in Deutschland wird einem ganz bang. Alle wollen und sehen die Notwendigkeit, aber keiner ist fähig wirklich etwas zu verändern oder Neues zu probieren. Alles erstarrt in den gewordenen Regelungen. Finnland, noch vor Jahren so hochgelobt, hat es vorgemacht. Horden von Besuchern aus aller Welt haben es sich immer und immer wieder angesehen und die Erfolge gesehen. Was ist davon geblieben? Sie müssen resigniert haben, denn heute redet keiner mehr davon. Und so blieb alles beim Alten. Hauptsache ist, dass alle was zu reden haben.

Bei Weitem kein Einzelfall! Mit der Digitalisierung ist es doch ebenso. Hehre Ziele, die im Nichts verpuffen. Warum? Weil die Regelungswut und die “German Angst” alles zerstört.
Ich ertappe mich selbst als einen derjenigen, die wegen wohlgemeinter und nicht unbegründeter Sorge vor den Gefahren warnen und zögern. Die aus bitterer Erfahrung den mauschelhaften Vergabepraktiken unserer Politiker mißtrauen. Denn sie treffen grundsätzlich auf Räuber. Räuber die sich häuslich in den Lobbyfluren der Regierungen niedergelassen haben. Kein Gemeinwohlgedanke steht im Vordergrund. Nur Bereicherung. Qualität und Schlichtheit sind nicht erwünscht. Sie bringen kein Geld.
Zunehmend muß ich also auch mich selbst in Frage stellen, ob diese Art des zögerlichen Handelns noch angebracht ist. Kleinere Länder wie Dänemark und andere machen es einfach vor.

Zwanzig Jahre zögern aus Sorge, sind ein viel grundsätzlicherer Verlust als das einfache und konsequente Heben des Schatzes. Wenn ich an all die Projekte zurückdenke, die ich im Laufe meines langen Lebens, - Johanna Mazibuko vergebe mir -,  bewußt wahrgenommen, als politisch anvisiert und dann nicht oder nicht konsequent genug verwirklicht gesehen habe, so fallen mir fast keine Gegenteiligeren mehr ein. Und ich muß zugeben, ja bekennen, dass wir den Stillstand mehr zu schätzen scheinen als den Fortschritt.

Wir sind zu faul und zu behäbig! Traurig. Wir werden gefressen von den Gierigen die sich 120 Millionen für eine App bezahlen lassen, oder ihre Verträge wohlweislich unter Geheimverschluss stellen lassen. Wenn man Ihnen wenigstens da auf die Finger sehen könnte, würde ihr Gebaren offenbar.
Auf dem armen Mann wird viel und ungerecht herumgehauen. Aber Karl Lauterbach macht es richtig. Zwanzig Jahre (zer-)reden für nichts. Jetzt ist Schluss!

Ich wünschte, wir könnten einfach alle mal die Klappe halten. Ein, zwei Jahre. Und in der Zeit bauen wir alle wie verrückt. Schulen, Windräder, Zugstrecken, auch Autobahnen wenn es unbedingt sein muss, Stromleitungen, Tunnel, Wohnungen, und bestellen endlich einfach und schlicht das Material was uns fehlt. Jetzt! Ohne den ganzen Klimbim! Macht die Beschaffungsämter dicht derweil und gebt den Leuten zwei Jahre bezahlten Urlaub. Sie sollen nachdenken, wie wir zu mehr Schlichtheit und Einfachheit zurückkehren.

Mit diesen Worten legte sich die alte Schildkröte nieder und sagte: Es ist getan! Solvitur ambulando!
Sie freute sich insgeheim ihren alten Ofen endlich wieder in Gang zu setzen und sich das erste leckere Essen nach langer Zeit zu kochen.

Wenn eine positive Formulierung für das Optimum gewonnen wird, rücken die nihilistischen Irrlichter an den Rand. Die Vorfreude darauf, was aus einem normalen Leben heraus erreicht werden kann, würde so stark werden, dass die Leuchtfeuerwirkung eines Bildungsideals für das kybernetische Zeitalter die Menschen aus der aktuellen Lethargie zöge.

Peter Sloterdijk

Der alte Tanz auf dem alten Vulkan

Mär 2022
11

... oder ... Wenn alte Männer zu Tyrannen werden und überall nur Feinde sehen... 

Wer das Licht der Information aussperren muss, der braucht offenbar Finsternis für das, was er tut.    Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident

 

Krieg dem Kriege

Sie lagen vier Jahre im Schützengraben.
Zeit, große Zeit!
Sie froren und waren verlaust und haben
daheim eine Frau und zwei kleine Knaben,
weit, weit – !

Und keiner, der ihnen die Wahrheit sagt.
Und keiner, der aufzubegehren wagt.
Monat um Monat, Jahr um Jahr ...

Und wenn mal einer auf Urlaub war,
sah er zu Hause die dicken Bäuche.
Und es fraßen dort um sich wie eine Seuche
der Tanz, die Gier, das Schiebergeschäft.
Und die Horde alldeutscher Skribenten kläfft:
»Krieg! Krieg!
Großer Sieg!
Sieg in Albanien und Sieg in Flandern!«
Und es starben die andern, die andern, die andern ...

Sie sahen die Kameraden fallen.
Das war das Schicksal bei fast allen:
Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod.
Ein kleiner Fleck, schmutzigrot –
und man trug sie fort und scharrte sie ein.
Wer wird wohl der nächste sein?

Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen.
Werden die Menschen es niemals lernen?
Gibt es ein Ding, um das es sich lohnt?
Wer ist das, der da oben thront,
von oben bis unten bespickt mit Orden,
und nur immer befiehlt: Morden! Morden! –
Blut und zermalmte Knochen und Dreck ...
Und dann hieß es plötzlich, das Schiff sei leck.

Der Kapitän hat den Abschied genommen
und ist etwas plötzlich von dannen geschwommen.
Ratlos stehen die Feldgrauen da.
Für wen das alles? Pro patria?

Brüder! Brüder! Schließt die Reihn!
Brüder! das darf nicht wieder sein!
Geben sie uns den Vernichtungsfrieden,
ist das gleiche Losbeschieden
unsern Söhnen und euern Enkeln.
Sollen die wieder blutrot besprenkeln
die Ackergräben, das grüne Gras?
Brüder! Pfeift den Burschen was!
Es darf und soll so nicht weitergehen.
Wir haben alle, alle gesehen,
wohin ein solcher Wahnsinn führt –

Das Feuer brannte, das sie geschürt.
Löscht es aus! Die Imperialisten,
die da drüben bei jenen nisten,
schenken uns wieder Nationalisten.
Und nach abermals zwanzig Jahren
kommen neue Kanonen gefahren. –
Das wäre kein Friede.
Das wäre Wahn.
Der alte Tanz auf dem alten Vulkan.
Du sollst nicht töten! hat einer gesagt.
Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt.
Will das niemals anders werden?
Krieg dem Kriege!
Und Friede auf Erden.

Kurt Tucholsky (Juni 1919)

In memoriam Robert K. Merton (04.07.1910- 23.02.2003)

Mai 2004
02

 

Nachruf von Prof. Dr. Erwin K. Scheuch, Köln [KZfSS, 55, 2003: 406-409]

Robert K. Merton war der einflussreichste Soziologe der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Reputation übertraf bereits zu dessen Lebzeiten diejenige von Talcott Parsons, der als der eigentliche Star der amerikanischen Soziologie galt. Da Merton sich als empirischer Soziologe verstand, ist es angemessen, ein solches Urteil auch empirisch zu unterfüttern.

Weiter: "In memoriam Robert K. Merton (04.07.1910- 23.02.2003)"